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02-2012

Valérie Rhein Talmud Tora für die Frau: vom «Verbot» zum «Gebot»?

Abstract:

Talmud Torah is viewed as a central commandment in Judaism. This paper considers the origins of this mitzvah and focuses on the history of women’s access to Torah study from antiquity to the present. For centuries women were barred from studying the Talmud and other rabbinic literature even though the Mishnah (Sotah 3:4) transmitted conflicting opinions on the propriety of women’s religious education. An analysis of the relevant sources shows that restrictions on women’s Torah study have been rooted to a great extent in social conventions. After tracing the radical shift vis-à-vis women and Talmud Torah that began in the mid-19th century, the paper concludes with an overview of contemporary female Jewish scholars, their professional opportunities, and the impact of expanded access to education on Modern Orthodoxy in the United States and Israel.

«Er [Rabbi Jochanan] pflegte zu sagen: Wenn du viel Tora gelernt hast, so überhebe dich deshalb nicht, denn dazu bist du ja erschaffen worden, indem die Menschen [הבריות] nur deshalb mit dem Leben beschenkt wurden, damit sie dem Studium der Tora obliegen.» [1]

Talmud Tora, das Studieren und Lehren der Tora und der rabbinischen Literatur, gilt im Judentum als eines der 613 Ge- und Verbote der Tora [2] und nimmt einen zentralen Stellenwert ein. [3] Es handelt sich dabei um eines der Gesetze, die für den Mann, nicht aber für die Frau verpflichtend sind und ihr in der Folge weitgehend vorenthalten blieben. [4] Ausgehend von diesen Gegebenheiten sowie von teilweise kontroversen Diskussionen in der Literatur der Tannaiten und Amoräer sollen im Folgenden die halachischen Grundlagen sowie die historische Entwicklung des Zugangs der Frau zu jüdischer Bildung analysiert werden: Was hatte die Rabbinen dazu bewogen, sie von Talmud Tora auszuschliessen und ihr stattdessen nur jenes Wissen zu vermitteln, das in ihren Augen für die jüdische Identität der Frau und die Sicherung der Tradition notwendig war? Was führte ab dem 19. Jahrhundert dazu, sie zunehmend an der prestigeträchtigen Kultur des Quellenstudiums teilhaben zu lassen, und wie begründeten die rabbinischen Autoritäten diesen Meinungswandel?
Zeitlich liegen die Schwerpunkte dieses Artikels in der Antike bzw. Spätantike (Teil 1) sowie im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert (Teil 3), skizziert werden aber auch die wichtigsten Entwicklungen in Mittelalter, früher Neuzeit sowie im 19. und frühen 20. Jahrhundert (Teil 2). Für die Gegenwart richtet sich der Blick hauptsächlich auf das orthodoxe Judentum der USA und Israels, weil wandelnde Traditionen des Judentums sich seit der Schoa in diesen beiden grossen jüdischen Zentren am deutlichsten manifestieren. [5] Nach einer Übersicht zu den einschlägigen Quellen zu Talmud Tora für die Frau seit der Antike werden Entwicklungen betrachtet, die sich aus dem umfassenden Zugang zu den rabbinischen Schriften in jüngerer Zeit ergaben: Wer sind die jüdischen Frauen, die sich seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert auch beruflich mit Talmud Tora beschäftigen, und wie wirkt sich dieser Wandel auf das Judentum der Gegenwart aus? Neben der Quellenanalyse wird das Thema «Talmud Tora für die Frau» insbesondere auch aus sozialwissenschaftlicher und religionssoziologischer Perspektive beleuchtet. Der Zugang der Frau zu jüdischer Bildung und dessen Veränderungen seit der Antike können denn auch nur in Korrelation mit anderen Aspekten, welche die Stellung der Frau im Judentum sowie in der allgemeinen Gesellschaft bestimmten und bestimmen, betrachtet werden.
Die Analyse der Entwicklungen von Talmud Tora für die Frau seit der Antike veranschaulicht, dass die in der rabbinischen Literatur verankerten Restriktionen gegenüber einer umfassenden religiösen Bildung der Frau primär auf gesellschaftlichen Konventionen beruhen. Besonders deutlich wird dies ab dem 19. Jahrhundert anhand der Argumente, mit welchen Rabbiner für einen Zugang der Frau zu Talmud Tora plädieren. In der bisherigen Forschung zur religiösen Bildung der Frau [6] wurde dem Talmud-Tora-Gebot für den Mann wenig Beachtung geschenkt. Eine parallele Betrachtung verdeutlicht, wie die Tannaiten und Amoräer sich für das Talmud-Tora-Gebot auf Toraverse stützen, die sich an das ganze Volk –ישראל – oder an die mit «Kinder» (Söhne und Töchter) übersetzbaren בנים richten und die Mizwa in der Folge ungewöhnlich explizit in Abgrenzung gegenüber der Nichtverpflichtung der Frau definieren. Eine der wichtigen Quellen für die Definition des Talmud-Tora-Gebots für den Mann – Deuteronomium 11,19 – dient den Rabbinen auch für das Entbinden der Frau von dieser Mizwa.

Teil 1: Antike

Das Gebot von Talmud Tora in der rabbinischen Literatur

Seit tannaitischer Zeit betonten die Rabbinen die besondere Bedeutung von Talmud Tora, und die rabbinische Literatur enthält dazu eine Fülle von Texten. Im Traktat Pea der Mischna zum Beispiel steht:

«Von folgenden Dingen geniesst der Mensch [אדם] die Früchte in dieser Welt, und das Kapital bleibt ihm für die zukünftige Welt erhalten: die Ehrerbietung gegen Vater und Mutter, die Wohltätigkeit und die Friedensstiftung zwischen einem Menschen und seinem Mitmenschen; das Studium der Tora aber wiegt sie alle auf.» [7]

Es stellt sich die Frage, weshalb Talmud Tora in der jüdischen Tradition einen so zentralen Stellenwert einnimmt. Die Aussage in mPea 1,1 suggeriert, dass «das Studium (...) zur Tat führt»: [8] Nur wer die Gebote kennt, kann auch danach leben. Die Gelehrten der Mischna und der Gemara verpflichteten jedoch lediglich den Mann zum Gebot von Talmud Tora [9] – obwohl auch die Frau zum Erfüllen von Geboten verpflichtet ist und diese, bevor sie sie befolgen kann, lernen muss. Dies führt zu einer weiteren Frage: jener der Definition des Begriffs «Talmud Tora». Talmud Tora beinhaltet denn auch weitaus mehr als das praxisbezogene Lernen jener Gebote, zu welchen ein jüdischer Mensch verpflichtet ist. [10] Susanne Plietzsch spricht von einem «rabbinischen Konzept der Tora», das sie folgendermassen charakterisiert:

«Insbesondere im babylonischen Talmud ist Tora weit mehr als konkrete Handlungsanweisung und situationsbezogene Anwendung der Tradition, sondern ein umfassendes und zeitunabhängiges Wissen und Verstehen der Welt, die Kenntnis einer göttlichen Ordnung, um die man sich lebenslang bemühen muss.» [11]

Marc Hirshman beschreibt das Torastudium als «the Jewish religious pursuit par excellence», [12] Shoshana Pantel Zolty erklärt, «(...) study is regarded also as an end, an act in its own right» [13] und Shmuel Safrai (1919–2003) sagt:

«The study of the Torah, however, was not only done to learn proper conduct and action; it was also an act of worship, which brought the student closer to God. The study of the Torah was a holy duty, the fulfilment of which became a religious experience.» [14]

Das Gebot von Talmud Tora gehört zu den von der Tora überlieferten Gesetzen (הלכה מדאורייתא), welche gegenüber rabbinischen Gesetzen (הלכה מדרבנן) in der Regel höher gewichtet werden. [15] Im Traktat Makkot beziffert der Babylonische Talmud die Zahl der in der Tora enthaltenen Gesetze mit 248 Geboten und 365 Verboten. [16] Die konkrete inhaltliche Zuordnung und Erläuterung dieser 613 Tora-Gesetze erfolgt in der nachtalmudischen Zeit, im 12. Jahrhundert etwa in Maimonides’ (1135–1204) Sefer Hamizwot oder im 13. Jahrhundert im darauf basierenden Sefer Hachinuch. [17] Für die Erläuterung des Gebots von Talmud Tora stützen sich beide Werke in erster Linie auf Deuteronomium 6,7 [18] und den im tannaitischen Midrasch Sifre Deuteronomium enthaltenen Kommentar dazu:

«Und du sollst sie [diese Worte, die ich dir heute gebiete; Deuteronomium 6,6] deinen Kindern [לבניך] einschärfen und von ihnen reden, wenn du in deinem Haus weilst und wenn du auf dem Weg gehst, wenn du dich niederlegst und wenn du aufstehst.» [19]
«Und präge sie deinen Kindern ein (...). Deinen Söhnen. [20] Dies sind deine Schüler. Und so findest du überall, dass die Schüler Söhne genannt werden (...). Und es heisst: ‹Und es gingen heraus die Söhne der Propheten› (II. Kön. 2,3). Waren es etwa Söhne der Propheten? Es waren doch nur Schüler. Vielmehr ist von hier aus über die Schüler zu entnehmen, dass sie Söhne genannt werden.» [21]

Der Babylonische Talmud hingegen stützt sich für die Definition von Talmud Tora auf zwei andere Tora-Verse: auf Deuteronomium 11,19 und 5,1 (sowie für Deuteronomium 11,19 ebenfalls auf den in Sifre Deuteronomium enthaltenen Kommentar dazu). [22] Die Schlüsselstelle befindet sich im Traktat Kidduschin. Dort werden Väter zu einer Reihe zeitgebundener Gebote – von welchen Frauen nach rabbinischer Auffassung in der Regel entbunden sind [23] – gegenüber ihren Söhnen verpflichtet. In dieser Aufzählung befindet sich auch das Gebot des Toralehrens:

«Die Mischna lehrt also das, was die Rabbanan gelehrt haben: Der Vater ist seinem Sohne gegenüber verpflichtet: ihn zu beschneiden, auszulösen, die Tora zu lehren, zu verheiraten und ein Handwerk zu lehren. (...) ‹Die Tora zu lehren.› Woher dies? – Es heisst: ihr sollt sie eure Söhne [את -בניכם] lehren [Deuteronomium 11,19]. Hat sein Vater sie ihn nicht gelehrt, so muss er selber sie lernen, denn es heisst: ihr sollt lernen [Deuteronomium 5,1].» [24]

Zum Lehren verpflichtet die Gemara hier die Väter, die das Gebot ihren Söhnen gegenüber wahrnehmen müssen. Zum Lernen werden Söhne verpflichtet, die nicht von ihren Vätern unterrichtet wurden. Die beiden Tora-Verse richten sich jedoch an das Volk [ישראל) [25)und verpflichten in Deuteronomium 5,1 dazu, die im Alltag zu befolgenden Gebote zu lernen, in Deuteronomium 11,18, die Worte Gottes (את-דברי אלה) in Herz und Seele zu legen (על לבבכם ועל נפשכם) sowie in Deuteronomium 11,19, diese Worte der nächsten Generation zu lehren (ולמדתם אותם את-בניכם). [26]

In der unmittelbaren Fortsetzung der Gemara werden Mütter und Töchter explizit vom Gebot von Talmud Tora entbunden:

«Woher, dass sie dazu nicht verpflichtet ist? – Es heisst: ihr sollt lehren [וְלִמַּדְתֶּם], [und man lese:] ihr sollt lernen [לִמַּדְתֶּםוּ]; wer zu lernen verpflichtet ist, ist auch zu lehren verpflichtet, und wer zu lernen nicht verpflichtet ist, ist auch zu lehren nicht verpflichtet. – Woher, dass sie nicht zu lernen verpflichtet ist? – Es heisst: ihr sollt lehren, [und man lese:] ihr sollt lernen; wen andere lehren müssen, muss auch lernen, und den andere nicht lehren müssen, braucht auch nicht zu lernen. – Woher, dass andere sie nicht zu lehren brauchen? – Die Schrift sagt: ihr sollt sie eure Söhne lehren, eure Söhne und nicht eure Töchter.» [27]

Die rabbinischen Gelehrten stützen sich in ihrer Argumentation auf Deuteronomium 11,19 und übersetzen dort בניכם mit «eure Söhne». Das ist nicht immer so: An anderen Stellen verstehen sie unter בן (Pl. בנים) «Kind» oder «Sohn und Tochter». Der Tora-Vers ובן אין-לו, «einen ‹Ben› hat er nicht» (Deuteronomium 25,5), beispielsweise wird im Babylonischen Talmud im Traktat Jewamot im Zusammenhang mit der Leviratsehe (Schwagerehe) als «männliche und weibliche Nachkommen» verstanden: Hat ein Ehepaar eine Tochter und der Mann stirbt, gilt er nicht als kinderlos, weshalb seine Witwe ihren Schwager nicht heiraten muss. [28]
In der Fortsetzung der Gemara zur Mischna Kidduschin 1,7 wird auf eine Reihe von Ausnahmen von der Regel, wonach Frauen von zeitgebundenen Geboten befreit und zu nicht zeitgebundenen Geboten verpflichtet sind, aufmerksam gemacht. Dabei wird deutlich, dass es sich beim Toralehren nicht um ein zeitgebundenes Gebot handelt, und es wird die Frage aufgeworfen, weshalb die Frau dennoch davon entbunden sei. «Aus Regeln ist nichts zu entnehmen», antwortet Rabbi Jochanan darauf. [29] Talmud Tora gehört in der Folge zu einer der Ausnahmen von der Regel, wonach Frauen zu nicht zeitgebundenen Geboten verpflichtet sind. [30]
In bKidduschin 29a–b verpflichten die Rabbinen Väter dazu, ihre Söhne die Tora zu lehren. Das rabbinische Verständnis von Talmud Tora beinhaltet aber auch das Lernen. Wie wird die Verpflichtung dazu hergeleitet? Die Gemara stützt sich in bKidduschin 29b auf eine alternative Lesart von (לִמַּדְתֶּםוּ) (Deuteronomium 11,19).

Das im Toratext unvokalisierte Wort kann anders konjugiert – statt als פיעל-Form als קל-Form – auch als וּלְמַדְתֶם gelesen werden: «Es heisst: ihr sollt lehren, [und man lese:] ihr sollt lernen»; aufgrund derselben Wortwurzel der beiden Verben wird לְלַמֵּ֣ד, lehren, hier zu לִלְמוֹד, lernen. Der Kontext des Verses (אתם את-בניכם...) lässt diese alternative Lesart וּלְמַדְתֶם allerdings nicht zu. Doch die Amoräer deuten so das auf die Ausübung der Gebote ausgerichtete Lehren und Lernen aller [ישראל") [31") in eine weit darüber hinausgehende Tätigkeit um, übertragen diese ausschliesslich dem Mann und definieren sie als eine in der Tora verankerte הלכה מדאורייתא. Nicht zuletzt auch aufgrund der in der jüdischen Tradition zentralen Bedeutung von Talmud Tora wirft dieses Vorgehen Fragen auf: Weshalb wird das rabbinische Konzept von Talmud Tora als הלכה מדאורייתא und nicht als הלכה מדרבנן definiert? Und weshalb wird diese Frage von den Rabbinen nicht diskutiert? [32] Interessant ist zudem, dass die Definition des Gebots von Talmud Tora in der rabbinischen Literatur dort erfolgt, wo die Frau vom Gebot der Wissensvermittlung an die nächste Generation ausgeschlossen wird. Noch augenfälliger wird dies Jahrhunderte später in Maimonides’ «MischneTora»: Die Hilchot Talmud Tora beginnen nicht mit der Verpflichtung des Mannes zu Talmud Tora, sondern mit der Abgrenzung gegenüber jenen, die nicht dazu verpflichtet werden: «Frauen, Sklaven und Minderjährige sind vom Gebot des Torastudiums befreit». [33]

Es ist nicht ungewöhnlich, dass die Frau in der rabbinischen Literatur explizit von einer Mizwa entbunden wird. Ihre Nichtverpflichtung steht bei der Definition von Talmud Tora jedoch ungewöhnlich stark im Vordergrund. [34] Eine Herausforderung bestand insbesondere in der Unterscheidung zwischen dem für Mann und Frau gleichermassen geltenden Lehren und Lernen der für sie relevanten Gebote [35] und dem sich nur an den Mann richtenden darüber hinausgehenden praxisunabhängigen Talmud-Tora-Gebot.
Weshalb konstruieren und institutionalisieren die Tannaiten und Amoräer Talmud Tora als ein zentrales biblisches Gebot, [36] obwohl dessen Herleitung aus der Tora nicht auf der Hand liegt? Und weshalb lassen sie die Frau nicht daran teilhaben, obwohl der Talmud kein explizites Verbot enthält, Frauen zu unterrichten, und auch sie verpflichtet ist, die für sie relevanten Gesetze zu lernen? [37] Eine mögliche Antwort lässt sich in den durch Zäsuren geprägten Lebensumständen nach der Zerstörung des Zweiten Tempels im Jahr 70 n. Chr. finden. Die identitätsstiftenden Gebote und Rituale des Tempelbetriebs können nicht mehr ausgeübt werden, und es gilt, auf diese schmerzvolle Erfahrung zu reagieren und die entstandenen Lücken zu füllen. [38] Gleichzeitig müssen die Machtverhältnisse neu definiert werden. Standen bisher die im Tempel ihren Dienst verrichtenden Priester im Mittelpunkt, entwickeln nun die rabbinischen Gelehrten eine «text-centered community», [39] deren Zentrum sie selbst sind: [40]

«The battle for power is between the men of the rabbinic party and the men of the traditional priestly circles for whom continuation of such biblical rituals was undoubtedly at the center of their religious lives and values. The new rabbinic regime of knowledge/power was epitomized (…) via the concept of Torah, which is the rabbinic ideology of an oral tradition communicated and transmitted from Sinai and of which they were the sole possessors. Crucial to the success of this epistemic shift was the disenfranchisement of the previous holders of power/knowledge, the priests, as well as (…) of other traditional sources of knowledge, including women.» [41]

Unter diesen Umständen ist ein Gebot, welches zum Studium von Tora und rabbinischer Literatur verpflichtet, von zentraler Bedeutung. Mit der Beschränkung dieser Aufgabe auf den Mann wird die bisherige patriarchale gesellschaftliche Struktur aufrechterhalten.

Die Frau und das Gebot von Talmud Tora

Die rabbinische Literatur der Antike überliefert zu allen Bereichen des Alltags der damaligen jüdischen Bevölkerung eine umfangreiche Sammlung an Ansichten und Diskussionen der Gelehrten. Im Gegensatz zu den später entstandenen Gesetzeskodices enthalten die tannaitischen und amoräischen Schriften eine breitere Meinungsvielfalt mit sich häufig widersprechenden Aussagen. Es lassen sich darin immer wieder sowohl Argumente für als auch Argumente gegen eine Religionspraxis finden. So schliesst der Babylonische Talmud beispielsweise Frauen im Traktat Berachot vom Zimmun (Aufforderung zum gemeinsamen Tischgebet in Anwesenheit von mindestens drei Erwachsenen) aus und verpflichtet sie im Traktat Arachin dazu. [42] Die Vielfalt und Widersprüchlichkeit der in der rabbinischen Literatur überlieferten Meinungen ermöglichen späteren Generationen und deren Rechtssprechung, sich auch unter veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen auf die frühe rabbinische Literatur abzustützen sowie Gesetze zu reinterpretieren und an Praxis und Tradition anzupassen. [43] Vor dem Hintergrund dieser Meinungsvielfalt sollen im Folgenden Quellen zum Thema Talmud Tora für die Frau gelesen werden.
Sich widersprechende Ansichten zu Talmud Tora für die Frau enthält eine Mischna im Traktat Sota. Dort gibt es zum einen die Stellungnahme von Simeon Ben Asai, der einen Vater dazu verpflichtet, auch seine Tochter zu unterrichten. [44] Ben Asai illustriert dies am Beispiel des in der Tora beschriebenen – und seit der Zerstörung des Tempels 70 n. Chr. nicht mehr praktizierten – Sota-Rituals. [45] Dieses zwingt eine des Ehebruchs verdächtigte Frau zum Trinken eines von einem Priester verabreichten Bitterwassers, in welchem zuvor ein Textstück mit von der Tora wiedergegebenen Fluchworten aufgelöst wurde. Bei einer Frau, die Ehebruch begangen hat, löst diese Flüssigkeit, so Tora und Mischna, körperliche Reaktionen aus und führt zum Tod. Die Mischna vertritt nun aber die Meinung, dass diese Wirkung des Bitterwassers aufgeschoben werde, wenn sich die Frau in der Vergangenheit durch eine gesetzestreue Lebensführung verdient gemacht habe:

«(...) Hatte sie ein Verdienst, dann schob es ihr [die Wirkung des Trunkes] auf. Manches Verdienst schiebt um ein Jahr auf, manches um zwei Jahre, manches um drei Jahre.» [46]

Daraus leitet Simeon Ben Asai ab, dass einer Tochter Torakenntnisse vermittelt werden müssen; seiner Aussage folgt eine Gegenmeinung von Rabbi Elieser ben Hyrcanus:

«Hieraus lehrt Ben Asai: Man ist verpflichtet seine Tochter Tora zu lehren, damit sie, wenn sie trinken muss, wisse, dass das Verdienst ihr den Aufschub bewirkt. Rabbi Elieser sagt: Wenn jemand seine Tochter Tora lehrt, ist es so, als lehrte er sie Ausgelassenheit [47] [תפלות].»

Während Ben Asais Stellungnahme im Kontext des Sota-Rituals eingebettet und begründet wird, werden Rabbi Eliesers Worte nicht näher erläutert. [48] Die Mischna fährt stattdessen mit einer weiteren Aussage zu תפלות in Verbindung mit Frauen fort:

«Rabbi Jehoschua [Josua] sagt: Lieber ist einer Frau nur ein Kab und Ausgelassenheit [תפלות] als neun Kab und Enthaltsamkeit [49] [פרישות].»

Es ist nicht klar, worauf Rabbi Jehoschua hier Bezug nimmt: auf Talmud Tora, auf das Sota-Ritual, auf die Wirkung des Bitterwassers oder auf etwas anderes. Mit Blick auf die Redaktionsgeschichte von mSota 3,4 schlägt Tal Ilan eine alternative, von den gängigen Kommentaren abweichende Lesart und Übersetzung vor. Die Mischna bilde, so Ilan, bis zur oben zitierten Aussage Ben Asais eine literarische Einheit, während es sich beim nachfolgenden Text mit den Aussagen Rabbi Eliesers und Rabbi Jehoschuas um einen bei der Redaktion der Mischna aufgrund von verwandt erscheinenden Themen eingefügten Abschnitt handle. Darin werde darüber diskutiert, ob Frauen sich mit Tora oder den sie ansprechenden Lehren der Pharisäer (פרישות) befassen sollen. [50] Ilans Argumentation geht von den drei in mSota 3,4 enthaltenen Begriffen פרישות ,פרושה und פרושים aus, die alle auf der Wortwurzel פרש (sich absondern) basieren; nach der oben zitierten Aussage Rabbi Jehoschuas [51] fährt der Mischnatext nämlich folgendermassen fort:

«Er pflegte auch zu sagen: Ein törichter Frommer, ein listiger Bösewicht und eine pharisäische (scheinheilige) Frau (אשה פרושה) und die Schläge der Pharisäer (פרושים), das sind die Zerstörer der Welt.» [52]

Die Begriffe פרושה ,פרישות und פרושים werden jedoch in der Regel mit verschiedenen Bedeutungen übersetzt, wie auch die auf Schlesinger und Goldschmidt basierende hier verwendete Übersetzung ins Deutsche veranschaulicht. [53] Ilan erklärt:

«Die Möglichkeit, dass alle drei Texte [54] auf die Pharisäer Bezug nehmen, sollte nicht von vornherein ausgeschlossen werden. Ich glaube, dass die Mischna höchstwahrscheinlich etwas über Frauen und religiöse Gruppierungen aussagen wollte. In sehr freier Übersetzung (...) würde ich die Mischna wie folgt wiedergeben: ‹Rabbi Elieser sagte: „Jeder, der seine Tochter Tora lehrt, es ist, als ob er sie Unsinn lehrte.“ Rabbi Jehoschua (...) sagt: „Für eine Frau ist es besser, ihren Kopf mit einem Mass von dieser Art Unsinn [d. h. Tora] zu füllen als mit neun Mass von [den Lehren der] Pharisäer.“›» [55]

So gesehen würde Ben Asais Haltung, wonach ein Vater seine Tochter zu unterrichten hat, von Rabbi Elieser nicht oder nicht explizit in Frage gestellt. Vielmehr würde Eliesers Aussage unabhängig von Ben Asai und dessen Ausführungen zum Sota-Ritual Rabbi Jehoschua als Möglichkeit dienen, seine Meinung zu einem anderen Thema auszudrücken: nämlich dass das kleinere Übel – Frauen in Tora zu unterrichten – dem grösseren Übel der damaligen Zeit – Frauen an die Pharisäer und deren Wertvorstellungen zu verlieren – vorzuziehen sei. [56] Für diese Lesart spricht, dass in mSota 3,5 wieder an das Sota-Ritual und die Möglichkeit einer aufschiebenden Wirkung des Bitterwassers bei Frauen, die des Ehebruchs schuldig sind, in den Jahren davor aber einen gesetzestreuen Lebenswandel geführt hatten, angeknüpft wird. Die Mischna überliefert dazu wiederum zwei sich widersprechende Meinungen:

«Rabbi Simon sagt: Ein Verdienst schiebt beim bitteren Wasser (die Wirkung) nicht auf. Denn wenn du sagst: Ein Verdienst schiebt beim fluchbringenden Wasser (die Wirkung) auf, dann schwächst du die Bedeutung des Wassers in den Augen all der Frauen, die es trinken müssen und verschaffst den reinen Frauen, die getrunken haben, einen üblen Ruf, da man sagen wird: Sie sind (in Wirklichkeit) unrein, nur hat ein Verdienst ihnen (die Wirkung) aufgeschoben. Rabbi sagt: Das Verdienst schiebt beim fluchbringenden Wasser (die Wirkung) auf; doch gebärt sie nicht mehr und gedeiht auch nicht, sondern verkümmert immer mehr, und am Ende stirbt sie jenen Tod» (der ihr in Numeri 5,27 prophezeit wird). [57]

Hinzu kommt, dass Rabbi Elieser und Rabbi Jehoschua vermutlich nicht zur selben Zeit gelebt haben wie Ben Asai [58] und in der Mischna in der Regel nur Zeitgenossen miteinander in Dialog treten.
Was aber will Ben Asai mit seiner Haltung gegenüber der aufschiebenden Wirkung der eingenommenen Flüssigkeit aussagen? Will er Ehebrecherinnen schonen? [59] Plädiert er dafür, Frauen in das Gebot von Talmud Tora und in dessen Verdienst sowie vor Strafe oder Sünde schützende Wirkung [60] einzubeziehen? [61] Oder muss seine Aussage als Kritik am für die Frau entwürdigenden Sota-Ritual gelesen werden?[62] Aufschlussreich sind die unterschiedlichen Kommentare zu Mischna 3,4 und 3,5 im Jerusalemer und Babylonischen Talmud. In beiden Werken stellen die Gelehrten zwischen dem von Ben Asai erwähnten Verdienst der Frau und dem in der rabbinischen Literatur als verdienstvoll beschriebenen Talmud Tora des Mannes einen Zusammenhang her, beschreiten aber unterschiedliche Wege, um aufzuzeigen, dass die Frau zu diesem Gebot zwar nicht verpflichtet ist, sie aber trotzdem am Verdienst für Talmud Tora teilhat. Die Gemara des Jerusalemer Talmuds – sie wird mit der Aussage «Ben Asai und Rabbi Le’asar ben Asarja sind verschiedener Meinung» [63] eröffnet – stützt sich dazu auf Deuteronomium 31,9–12. Dort wird geboten, die Tora in Gegenwart des ganzen Volkes inklusive Frauen, Kindern und Fremden alle sieben Jahre vorzulesen, «damit sie hören und damit sie lernen (...)». [64] Die Gemara lässt an dieser Stelle Rabbi El’asar (Le’asar) ben Asarja [65] den Vers Deuteronomium 31,12 auslegen:

«Die Männer kommen um zu lernen und die Frauen um zuzuhören. Und warum kommen die Kinder? Um denen, die sie mitnehmen, Lohn zu erwerben. Da sprach er [Rabbi Jehoschua] zu ihnen: Das Geschlecht ist nicht verwaist, in dem Rabbi El’asar ben Asarja weilt.» [66]

Durch das Auseinandernehmen der beiden Verben und das Zuordnen des Lernens auf die Männer und des Zuhörens auf die Frauen schliesst Rabbi El’asar ben Asarja Letztere von Talmud Tora aus. Der Frau, zu deren Pflichten die Kinderbetreuung gehörte, [67] wird eine zusätzliche Aufgabe – das Mitbringen der Kinder – übertragen, durch die sie sich verdient machen kann. Ben Asais Argument des «Verdienstes» wird so, in einen anderen Kontext gestellt, wiederaufgegriffen. Durch Rabbi Jehoschuas Lob gegenüber Rabbi El’asar ben Asarja signalisiert der Jerusalemer Talmud, dass er Rabbi Eliesers Haltung unterstützt – obwohl Letzterer in der rabbinischen Literatur als umstritten gilt und dessen Weisungen häufig nicht befolgt werden. [68]
Anders als in der Gemara des Jerusalemer Talmuds, wo explizit auf Ben Asais Haltung Bezug genommen wird, [69] lässt der Babylonische Talmud beim Aufzeigen, dass die Frau auch ohne Lernverpflichtung in den Genuss des Verdienstes von Talmud Tora kommt, keinen der Protagonisten aus mSota 3,4 zu Wort kommen. [70] Vielmehr wird eine Diskussion über die schützende Wirkung des Torastudiums mit der Aussage abgeschlossen, dass Frauen, die ihre studierenden Männer und Söhne unterstützen, ebenfalls von diesem Schutz profitieren:

«(...) zugegeben, dass [die Tora den Frauen] nicht geboten ist, aber sollten sie denn als Belohnung dafür, dass sie ihre Kinder die Schrift und die Mischna lernen lassen und auf ihre Männer warten, bis sie aus dem Lehrhaus kommen, nicht [das Verdienst] mit ihnen teilen!?» [71]

Während im Jerusalemer Talmud nur Frauen mit kleineren Kindern Anteil am Verdienst des Studiums der Männer zu erhalten scheinen, schliesst der Babylonische Talmud alle Verheirateten (hingegen weder Witwen noch ledige Frauen) mit ein. [72]
Ben Asai ist in der rabbinischen Literatur allerdings nicht die einzige Stimme, die sich für den Einbezug der Frau in Talmud Tora ausspricht. Die Tosefta zu Berachot beispielsweise erlaubt Frauen und explizit auch menstruierenden Frauen das Studium der Tora und der rabbinischen Literatur:

«Die männlichen und weiblichen Flussbehafteten [הזבין והזבות]; an genitalem Ausfluss leidende Männer und Frauen], die Menstruierenden und die Wöchnerinnen dürfen die Tora lesen und Mischna, Midrasch, Halachot und Haggadot studieren (...).» [73]

Dieselbe Aussage befindet sich auch im Jerusalemer Talmud, während im Babylonischen Talmud die Frauen in dieser Auflistung fehlen. [74] Eine Mischna im Traktat Nedarim erwähnt im Zusammenhang mit einem Gelübde, dass ein Mann die Söhne und Töchter eines anderen Mannes «in der Schrift unterrichten» darf. [75] Im Traktat Sanhedrin des Babylonischen Talmuds wird von der gelehrten Bevölkerung zur Zeit von König Hiskija erzählt: «(...) und man fand weder einen Knaben noch ein Mädchen, weder einen Mann noch eine Frau, die nicht in den Gesetzen über die Reinheit und Unreinheit kundig wären.» [76] Interessant ist auch die Wortwahl der eingangs zitierten Aussage Rabbi Jochanans im Midrasch zum Mischna-Traktat Awot: Nicht die Männer (האנשים), sondern die Menschen (הבריות) wurden geboren, um Tora zu studieren. [77] Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff אדם in bSchabbat 127a: [78] Die Schlussfolgerung «doch das Toralernen wiegt alles auf» wird nicht einem Geschlecht zugeordnet, sondern scheint sich auf den am Anfang der Aufzählung erwähnten Menschen zu beziehen. [79]
In der Praxis durchgesetzt hat sich in der rabbinischen Literatur der Antike aber Rabbi Eliesers Haltung und das von ihm geprägte Bild von תפלות in Bezug auf das Unterrichten einer Tochter: Talmud Tora hat sich zu einer Aufgabe des Mannes entwickelt und ist als solche in der jüdischen Tradition fest verankert. [80] Der überwiegenden Mehrheit der jüdischen Mädchen und Frauen blieb in der Folge ein institutionalisierter Zugang zu Talmud Tora verschlossen, und die Tradition, jüdisches Wissen von Generation zu Generation weiterzugeben, war Vätern und Söhnen vorbehalten. [81] Weshalb haben sich die rabbinischen Gelehrten während Jahrhunderten an Rabbi Elieser orientiert und Frauen nicht an Talmud Tora teilhaben lassen? Wenn, wie oben skizziert, die Institutionalisierung der Beschäftigung mit Tora und rabbinischen Schriften im Zusammenhang mit der Ablösung von den Tempelritualen steht, wird sich Talmud Tora ebenso wie der vorwiegend von Männern frequentierte Tempelbereich [82] an eine männliche Zielgruppe richten. Diese Haltung widerspiegelt auch das Verständnis der Mischna, wonach der freie erwachsene jüdische Mann im Mittelpunkt der jüdischen Gesellschaft steht. [83] Manche Gelehrte wiederum, darunter Raschi, haben Rabbi Jehoschuas Äusserung in mSota 3,4 im Anschluss an Rabbi Eliesers Aussage als Unterstützung von dessen Meinung verstanden, sodass Elieser und Jehoschua gegenüber Ben Asai eine Mehrheit bildeten und entsprechend höher gewichtet wurden. [84] Auch Judith Hauptman stellt zwischen den Aussagen von Rabbi Jehoschua und Rabbi Elieser einen Zusammenhang her: Beide Rabbinen scheinen der Frau Talmud Tora deshalb nicht zuzutrauen, weil diese übermässig auf die Sexualität fokussiert sei. [85] Hauptman liest diese Stelle als Projektion des Mannes auf die Frau:

«It is quite astonishing that the only place in the Mishnah where the issue of educating women is raised directly is in this context of women’s inappropriate sexual behavior. I, therefore, think it possible that the Mishnah here hints, below the surface, that the reason a man should not teach a woman Torah (…), is not a woman’s intellectual insufficiency but rather a man’s sexual proclivities. (...) What we see here, it seems, is the displacement of great and uncontrollable interest in sexual activity from men to women. It is not she who will be led astray by learning Torah, but he: In the course of teaching it to her he will find himself sexually distracted.» [86]

Wie das für nicht miteinander verheiratete Männer und Frauen geltende Verbot, sich ohne Dritte gemeinsam in einem Raum aufzuhalten (ייחוד), sowie die in verschiedenen Lebensbereichen gebotene Bescheidenheit oder Sittlichkeit (צניעות; beispielsweise in Bezug auf die Kleidung) diente das Ausschliessen der Frau von Talmud Tora so gelesen dem Mann als Schutz vor verbotenen sexuellen Beziehungen. [87] Möglicherweise war es den talmudischen Kommentatoren zu mSota 3,4 auch deshalb wichtig, die vom Lernen ausgeschlossenen Frauen wenigstens an der vor Strafe oder Sünde schützenden Wirkung des Lernens teilhaben zu lassen.

Frauen in rabbinischen Familien: Momentaufnahmen aus dem Alltag

Die rabbinische Literatur versteht Talmud Tora also als Aufgabe des Mannes und nicht als Aufgabe der Frau. Welches aber war zur Zeit der Tannaiten und Amoräer die übliche Praxis? Wurde Rabbi Eliesers Haltung gelebt oder, zumindest teilweise, auch jene von Ben Asai? Gestützt auf ihre jüngsten Forschungsergebnisse gibt Judith Hauptman mögliche Antworten auf diese Frage. Sie hat den Talmud systematisch nach Stellen durchsucht, in welchen Frauen in Gesprächen zu halachischen Themen oder in Bezug auf die Weitergabe oder die konkrete Anwendung von Halacha in Erscheinung treten. Die 17 von ihr zusammengetragenen Textstellen vermitteln das Bild eines Alltags, in welchem Frauen, die mit Rabbinen in einem Haushalt lebten, in Talmud Tora einbezogen waren und über komplexere halachische Kenntnisse verfügten als jene, die sie zur Befolgung der für sie geltenden Gebote benötigten:

«(…) there is a continuum of Torah learning: at one end is the woman who watches her mother and learns to designate a hallah portion for the kohen, and so on. At the other end is the man who sits in a study house all day learning Torah with colleagues. I am situating many women somewhere in between these two poles. They did not sit in a study house with men, but they were able to do much more than learn Torah by watching their mothers. Each woman may have been at a different point on the Torah-learning continuum, but the continuum, and not just its polar extremes, exists.» [88]

In den 17 Episoden – 10 stammen aus dem Babylonischen und 7 aus dem Jerusalemer Talmud – wird von insgesamt 21 an Gesprächen zu halachischen Themen beteiligten Frauen berichtet. Abgesehen von einer Ausnahme bleiben sie namenlos und werden als Mutter (6), Tochter (6), Ehefrau (3), Schwester, Schwiegertochter, Schwiegermutter oder Magd [89] (je 1) eines Gelehrten [90] bezeichnet und in zwei Fällen einfach als Frau. Diese Frauen waren entweder Zeuginnen von zu Hause stattfindenden Gesprächen von Rabbinen, in welchen über neue halachische Regeln diskutiert wurde, [91] oder sie beteiligten sich im Gespräch mit ihnen verwandten Männern an halachischen Diskussionen, [92] stellten Fragen zu halachischen Themen, gaben halachische Regeln an männliche und weibliche Familienmitglieder weiter und wandten ihr halachisches Wissen im Alltag an.[93] Halachische Werke widerspiegelten, so Hauptman, immer auch ein Stück Alltag jener Zeit, in der sie entstanden sind:

«(…) I will argue that the anecdotes I cite below, which are taken from this vast body of citational literature, reflect social reality and may even preserve women’s voices, albeit filtered through a male lens.» [94]

In den von Hauptman präsentierten talmudischen Quellen beschränkt sich das Wissen der Frauen nicht ausschliesslich auf für sie und ihre Aufgaben relevante Themen. So berichtet der Babylonische Talmud im Traktat Ketuwot etwa von Rawa, der sich in einer Gerichtsverhandlung auf eine Einschätzung seiner Frau stützt. [95] Mit Blick auf Talmud Tora ist folgende Erzählung aus dem Traktat Ketuwot interessant:

«Wenn [eine Frau] sagt: ‹Ich war gefangen, jedoch rein geblieben›, so ist sie glaubhaft, denn derselbe Mund, der verboten gemacht hat, macht auch erlaubt. Wenn aber Zeugen vorhanden sind [und aussagen], dass sie gefangen war, und sie sagt: ‹Ich bin rein [geblieben]›, ist sie nicht glaubhaft. Kommen Zeugen, nachdem sie sich [mit einem Kohen] verheiratet hat, braucht sie [den Mann] nicht zu verlassen.» [96]
«Kommen Zeugen, nachdem sie sich verheiratet hat etc. Der Vater Schmuels sagte: Verheiratet heisst nicht wirklich verheiratet, sondern sobald ihr zu heiraten erlaubt worden ist, auch wenn sie sich noch nicht verheiratet hat. (...) die Töchter des Mar Schmuel gerieten in Gefangenschaft, und man brachte sie ins Land Israel. Da liessen sie die Gefangenenführer draussen und traten in das Lehrhaus Rabbi Chaninas. Die eine sagte, sie sei gefangen worden, jedoch rein, und die andere sagte, sie sei gefangen worden, jedoch rein. Darauf erlaubte man [Kohanim] sie [zu heiraten]. [97] Als später die Gefangenenführer eintraten, sprach Rabbi Chanina: Es sind Kinder eines Gelehrten. Es stellte sich heraus, dass sie die Töchter des Mar Schmuel sind (...).» [98]

Nachdem die Männer, die die beiden Frauen gefangen genommen hatten, in das Lehrhaus eintraten, realisierte Rabbi Chanina sofort, dass die Frauen über halachisches Wissen verfügten und davon Gebrauch gemacht hatten, indem sie das Lehrhaus ohne Entführer betreten hatten (denn aufgrund der Mischna wird einer Frau in Anwesenheit von Zeugen nicht geglaubt). [99] Mit seiner Aussage, dass die beiden Frauen Töchter eines Gelehrten seien, impliziert Rabbi Chanina, dass der Vater die Töchter unterrichtet hat:

«By calling these women ‹daughters of a scholar,› R. Hanina is suggesting that scholars teach halakhah to their daughters on many subjects, not just those related to household management. And that, in fact, is the central thesis of this paper: that women living in rabbinic households learned halakhah by overhearing Torah discussion and by direct instruction. Here we see an Amora saying exactly that, i.e., that (rabbi) fathers teach Torah to their daughters.» [100]

Die von Judith Hauptman zusammengetragenen Talmudstellen zeigen, dass die darin skizzierten Frauen sich in über die für sie relevanten Gebote hinausgehenden halachischen Sachverhalten auskannten und diese mit rabbinisch geschulten Männern thematisieren. Frauen werden dabei von Männern angehört, und die Aussagen von Frauen werden in die rabbinische Literatur aufgenommen. Rabbi Eliesers Haltung – «wenn jemand seine Tochter Tora lehrt, ist es so, als lehrte er sie תפלות» – hat sich in der Gemara und in der späteren rabbinischen Literatur zwar durchgesetzt. Aufgrund der von Hauptman präsentierten Erzählungen muss jedoch davon ausgegangen werden, dass es zur Zeit der Amoräer auch Männer gegeben hatte, die weibliche Familienmitglieder ein Stück weit an Talmud Tora teilhaben liessen. [101]
Dieselben Erkenntnisse lassen sich auch aus den Forschungen von Bernadette J. Brooten gewinnen. Brooten hat Inschriften aus sechs Jahrhunderten (1. Jahrhundert v. Chr. bis 6. Jahrhundert) untersucht, die Namen von Frauen in Verbindung mit synagogalen Leitungsfunktionen überliefern. [102] Philon von Alexandrien (ca. 20 v. Chr.–ca. 50 n. Chr.) berichtet zudem von Frauen, «die ihr Leben dem Studium des jüdischen Gesetzes widmeten». [103] Auch wenn es sich dabei um Ausnahmen handeln mag, vermitteln diese Zeugnisse Einblicke in Gesellschaften, in welchen zumindest einzelne Frauen mit Prestige und religiöser Bildung verbundene öffentliche Funktionen einnahmen. Brooten fordert deshalb zu einem differenzierten Überdenken der Rolle der jüdischen Frau in der Antike auf:

«It is not impossible to imagine Jewish women sitting on councils of elders, teaching or arranging for the religious service. (…) this collection of inscriptions should challenge historians of religion to question the prevailing view of Judaism in the Greco-Roman period as a community all forms of which excluded women from leadership rôles.» [104]

Ausnahmen von der Norm (Teil 1): gebildete Frauen im Midrasch (a); Beruria (b)

In der rabbinischen Literatur berichten auch Midraschim über eine ganze Reihe gebildeter Frauen, etwa über biblische Frauenfiguren, die ihr Wissen zu Tora und Geboten an andere Frauen weitergeben. Der Midrasch Bereschit Rabba (ca. 5. Jahrhundert) zum Beispiel erzählt, wie Sara Frauen für das Judentum gewinnt, während Abraham dasselbe gegenüber Männern tut:

«Und die Seelen, die sie in Haran erworben. Rabbi Eleasar bar Simon sagte: Wenn alle menschlichen Wesen sich versammelten, um eine Fliege zu schaffen, so könnten sie ihr doch keine Seele einhauchen, wie kannst du nun sagen: die Seelen, die sie machten (אשר עשו)? Es sind darunter die Proselyten zu verstehen, welche (durch Abraham) zur Gotteserkenntnis gelangten, und es soll dir damit gelehrt werden: wer einen Heiden zur Gotteserkenntnis bringt, ist so zu betrachten, als wenn er ihn erschaffen hätte. Warum heisst es nicht: die er gemacht (אשר עשה), sondern: die sie gemacht (אשר עשו)? Weil Abraham, wie Rabbi Huna bemerkte, die Männer und Sara die Frauen zum Judentum bekehrte.» [105]

Der Midrasch Schemot Rabba hält fest, dass «Abraham hinsichtlich der Prophetie der Sara nachstand», [106] und ein talmudischer Midrasch im Traktat Baba Batra stellt die Töchter Zelofads – die fünf Schwestern hatten sich gegenüber Moses erfolgreich für das Erbe ihres Vaters gewehrt [107] – als «weise» und «in der Deduktion kundig» vor. [108]
Die berühmteste gelehrte Frauenfigur, von der die rabbinische Literatur erzählt, ist Beruria. Sie hatte vermutlich im 2. Jahrhundert gelebt. [109] Die Überlieferungen in Tosefta, Babylonischem Talmud sowie Midrasch Mischle zeichnen das Bild einer ausserordentlich gebildeten und angesehenen Frau: Es wird berichtet, wie sie in Gesellschaft anderer Gelehrter halachische Entscheidungen trifft und wie diese in ihrem Namen überliefert werden, [110] wie sie an einem Tag von 300 verschiedenen Weisen unterrichtet wurde [111] oder ihrem Mann die traurige Nachricht vom Tod zweier Söhne behutsam und klug, in Weisheiten verpackt, vermittelt. [112] Berurias Wissen lässt sich mit jenem der Rabbinen vergleichen, doch im Gegensatz zu den gebildeten Männern ist sie als gebildete Frau innerhalb der rabbinischen Literatur eine Ausnahmeerscheinung. [113] Der nachtalmudische Midrasch Mischle versucht, sie auch mit der traditionellen Frauenrolle in Einklang zu bringen: Er lässt die Mutter und Ehefrau Beruria zu Hause auf ihren aus dem Lehrhaus kommenden Mann Rabbi Meir – auch er ein bekannter Gelehrter – warten. [114] Raschi schliesslich vermittelt in seinem Talmudkommentar das Bild einer «leichtsinnigen» Frau: [115] Beruria lässt sich von einem Schüler Rabbi Meirs verführen und bringt sich um, als sie erfährt, dass ihr Mann den Schüler mit der Verführung beauftragt hatte, um ihr zu beweisen, dass Frauen «leichtsinnig» seien. [116] Mit diesem tragisch endenden Leben büsste die Figur der gebildeten Beruria als Vorbild für Frauen an Attraktivität ein. [117] Trotzdem wurde Beruria im 20. Jahrhundert zu einem Symbol für jüdische Feministinnen, die sich für den Zugang zu Talmud Tora für Frauen einsetzten. Die 1976 gegründete erste israelische Institution, die Frauen ein umfassendes Studium der rabbinischen Literatur ermöglichte, war beispielsweise nach ihr benannt. [118]

Teil 2: Mittelalter und Neuzeit

Die Frau und Talmud Tora in der Mischne Tora

Wie sehr sich das von Rabbi Elieser geprägte Bild von תפלות für das Unterrichten einer Tochter in der rabbinischen Literatur durchgesetzt hat, zeigt sich im 12. Jahrhundert in Maimonides’ Kodex «Mischne Tora»: Im Teil «Hilchot Talmud Tora» greift Maimonides auf dessen Argument zurück, schreibt es aber den Rabbinen (חכמים) schlechthin zu. [119] Rabbi Eliesers Meinung wird so zu einer allgemeingültigen Aussage. [120]
Maimonides’ Haltung gegenüber dem Lehren und Lernen der Frau unterscheidet sich aber wesentlich von derjenigen der Tannaiten und Amoräer. So erweitert er etwa die im Talmud zum Ausdruck gebrachten Bemühungen, die Frau an der schützenden Wirkung des Studierens teilhaben zu lassen. Durch Selbststudium kann sie sich nun, wie er gleich zu Beginn des sich mit den Regeln von Talmud Tora für die Frau befassenden Abschnittes erklärt, unabhängig von Ehemann und Söhnen die Schutzwirkung selbständig erwerben und am Wissen teilhaben: [121]

«Eine Frau, die Tora studiert, wird dafür belohnt, jedoch nicht in gleichem Masse wie ein Mann. Denn (diese Mizwa) wurde ihr nicht aufgetragen. Jeder, der eine Aufgabe erfüllt, zu der er nicht verpflichtet ist, erhält nicht den gleichen Lohn wie jemand, der den Auftrag dazu erhielt, sondern einen geringeren.» [122]

Maimonides unterscheidet damit zwischen dem in der rabbinischen Literatur bisher als verboten geltenden Unterrichten einer Tochter durch den Vater und dem Selbststudium einer Frau. [123] Doch er geht noch einen Schritt weiter:

«(Deshalb) pflegten unsere Weisen zu sagen: ‹Wer seine Tochter Tora lehrt, ist wie jemand, der ihr Märchen und Gleichnisse [תפלות] erzählt.› Worauf bezieht sich (dieses Verbot unserer Weisen gegen den Tora-Unterricht)? Auf die mündliche Lehre. (Man sollte ihr aber auch) die schriftliche Lehre nicht a priori beibringen. Falls (der Vater) es aber dennoch tut, gilt er (deswegen noch) nicht als jemand, der ihr Märchen und Gleichnisse [תפלות] erzählt.» [124]

Das Unterrichten der Tochter durch den Vater ist zwar unerwünscht, doch Maimonides befreit die Weitergabe von biblischem Wissen an eine Frau vom Attribut תפלות. Zudem attestiert er Frauen, wenn auch nicht allen, Lernfähigkeiten, indem er nicht von «den» Frauen schlechthin spricht, die nicht über die zum Lernen notwendigen Voraussetzungen verfügten, sondern die Formulierung «die meisten Frauen» (רב הנשים) wählt: [125]

«Obwohl sie für (ihr Studium) belohnt wird, haben die Weisen befohlen, dass man seiner Tochter nicht Tora beibringen sollte, weil die meisten Frauen [רב הנשים] sich nicht auf das Studium konzentrieren können. Sie machen aus den Worten der Tora eine nutzlose Sache, weil es ihnen an Verständnis (dafür) mangelt.» [126]

Im Teil «Hilchot Jesodei haTora» der «Mischne Tora» schliesslich erwähnt Maimonides im Zusammenhang mit den für praxisbezogenes Lernen notwendigen Fähigkeiten auch die Frau:

«Und sie [127] können von Gross und Klein, Mann und Frau umfassend angeeignet werden, unabhängig davon, ob sie über ein grosses oder ein kleines Wissen verfügen.» [128]

Die rabbinischen Autoritäten des Mittelalters und der frühen Neuzeit setzten die Diskussion rund um Talmud Tora für die Frau fort. Doch ebenso wie Rabbi Eliesers Haltung die rabbinischen Diskurse zu Talmud Tora für jüdische Mädchen und Frauen während Jahrhunderten bestimmt hatte, sollten Maimonides‘ Kommentare das Thema über Jahrhunderte prägen:

«Maimonides’ ruling on the status of women with regard to the study of Torah clarified an issue which had been in dispute, and served as precedent for virtually all subsequent halakhic decisions on the issue.» [129]

In Jacob ben Aschers «Tur» (14. Jahrhundert) zum Beispiel oder in Joseph Caros Schulchan Aruch (16. Jahrhundert) werden in Bezug auf das Studieren der Frau Maimonides’ Hilchot Talmud Tora zitiert. [130] Demgegenüber erwähnt der Kizzur Schulchan Aruch (19. Jahrhundert) die Frau im Zusammenhang mit den «Vorschriften für das Tora-Lernen» gar nicht: «Jedermann in Israel [כל איש ישראל] ist verpflichtet, Tora zu lernen (...).» [131]

Ausnahmen von der Norm (Teil 2): gebildete Frauen in Mittelalter und früher Neuzeit

Auch im Mittelalter und in der frühen Neuzeit stammten Frauen mit einem umfangreicheren jüdischen Wissen häufig aus rabbinischen Familien. Vor allem Gelehrte, die Töchter, aber keine Söhne hatten, gaben ihr Wissen auf diese Weise an die nächste Generation weiter. [132] Zu den prominentesten gelehrten Vätern von ausschliesslich Töchtern gehörte im 11. Jahrhundert Raschi: Seine Töchter Jocheved, Miriam und Rachel waren mit halachischen Sachverhalten vertraut. [133] Von Isaak ben Samuel von Dampierre (Ri haSaken, 12. Jahrhundert) werden Frauen aus Raschis Familie in einer halachischen Abhandlung als eine Quelle aufgeführt, [134] und auch in der Responsenliteratur des spanischen Gelehrten Simon ben Zemach Duran (Raschbaz, 1361–1444) wird eine Nachfahrin von Raschis Tochter Miriam explizit als Quelle genannt. [135]
Halachische Entscheidungen hat auch Bella Falk Cohen, Frau des polnischen Rabbiners Joschua ben Alexander HaCohen Falk (SM’A; ca. 1555–ca. 1614), getroffen; der Posek Ezechiel ben Jehuda Landau (1713–1793) hat ihre «rituelle Entscheidung»,[136] den Segensspruch über Kerzen am Vorabend von Feiertagen schon vor dem Anzünden zu sprechen – dies im Gegensatz zur Praxis am Vorabend von Schabbat –, nicht nur bestätigt, sondern sich dabei auch auf sie als Quelle bezogen. [137] Dasselbe gilt für Bella Falk Cohens Lehre, die Kerzen am zweiten Vorabend eines Feiertags erst bei vollständiger Dunkelheit anzuzünden. [138]
Einen anderen Weg, ihr Wissen weiterzugeben, gingen Frauen im Lehrberuf. Aus der Kairoer Genisa stammen zwei Responsen von Maimonides, die den Fall einer Tora lehrenden Frau dokumentieren. Einerseits wendet sich der Ehemann an ihn:

«When he returned home (...), he found that his brother-in-law, his wife’s brother, had become a teacher of children; and his wife, the brother-in-law’s sister, was sitting with him and teaching the children; this was due to the fact that her husband had taught her some Torah and she had learned the rest [of the Torah] while her husband was absent.
Her husband said to her: ‹It is not at all proper for you to teach [these] children, for I fear that their fathers, who will come to visit the children, and you will be in an embarrassing position because of them, and I do not want this (...).›» [139]

Nachdem Maimonides in seiner Antwort den Mann dazu befugt hatte, seine Frau am Unterrichten zu hindern, schilderte sie dem Gelehrten ihre Sicht der Dinge:

«And she has a brother who teaches children Bible, and the woman has knowledge of the Bible. She asked her brother to let her teach the children Bible with him, so that she would have a means of sustaining herself and her sons, since she was already near to death from the misery in which she was enveloped, and he [the husband] was absent.» [140]

Nun fällt Maimonides‘ Antwort ganz anders aus: Angesichts der von ihr beschriebenen Umstände – der Mann kommt weder seinen ehelichen Verpflichtungen nach noch trägt er zum finanziellen Unterhalt der Familie bei – müsse er in eine Scheidung einwilligen, «and she will be her own woman, [free to] teach whomever she pleases and do whatever she pleases.» [141]
Renée Levine Melammed betont in ihrer Analyse der beiden Responsen, dass Maimonides in seiner Antwort an den Gatten diesen lediglich befuge, seine Frau vom Unterrichten abzuhalten. Er sage, so Levine Melammed, hingegen nicht, dass die Frau nicht unterrichten dürfe oder der Mann sie am Unterrichten hindern müsse. Maimonides scheint grundsätzlich nichts gegen eine Frau als Lehrerin einzuwenden. [142] Im Gegenteil: «He helped to provide a way for her to be gainfully employed in the teaching profession.» [143] Ungewöhnlich an dieser Frau war nicht ihr auf der Tora basierendes Wissen, sondern dass sie ihre Kenntnisse an Jungen weitergab, dazu den häuslichen Bereich verliess und in Kontakt mit nicht zur Familie gehörenden Männern – den Vätern ihrer Schüler – stand.
Über ein weit über die biblischen Schriften hinausgehendes Wissen verfügte die in Kurdistan geborene Asenat Bar[a]zani (ca. 1590–ca. 1670): Sie war mit der rabbinischen und kabbalistischen Literatur vertraut, nahm nach dem frühen Tod ihres Mannes dessen Funktion als Leiter einer Talmudhochschule ein und trug den Titel Tanna‘it, die weibliche Form für die rabbinischen Gelehrten der Mischna. [144] Unterrichtet worden war sie von ihrem Vater, der keine männlichen Nachkommen hatte. Asenat Barzanis Mann hatte seinem Schwiegervater vor der Hochzeit versprechen müssen, sie keine Hausarbeit verrichten zu lassen, damit sie sich weiterhin ihren Studien widmen könne. [145] Aus Barzanis Schriften geht hervor, dass sie unter ihrer ungewöhnlichen Biografie und Lebenssituation litt. Denn obwohl der Zugang zu höherer jüdischer Bildung im 17. Jahrhundert für eine Frau ein seltenes Privileg war – Shoshana Pantel Zolty skizziert sie als «a unique figure of feminine scholastic prominence» und Renée Levine Melammed hält sie für die erste orthodoxe Rabbinerin [146] –, verfügte sie über ebenso wenig Freiheiten wie ihre Zeitgenossinnen in der klassischen Rolle als Ehe- und Hausfrau sowie Mutter:

«(…) she was trained to be ‹the joy› of her father. (...) What we see in the structure of her writing, and by what she tells us and does not tell us, is that she is an extension, perhaps by no choice of her own, of her father and her husband.» [147]

Diesbezüglich war sie kein Einzelfall: Während Jahrhunderten hatten Frauen in der Regel nicht die Möglichkeit, ihren Zugang zu Bildung selbstbestimmt zu gestalten. Nicht die Mädchen oder Frauen, sondern ihre gelehrten Väter oder Ehemänner entschieden über einen allfälligen Talmud-Tora-Unterricht sowie über dessen Ausgestaltung und Intensität. [148]
Neben Bella Falk Cohen oder Asenat Barzani gab es seit dem Mittelalter eine ganze Reihe weiterer Frauen, die über eine für ihre Zeit ungewöhnlich hohe jüdische Bildung verfügten. [149] Doch so aussergewöhnlich deren Lebensgeschichten und Wissen auch waren: Es handelte sich bis weit ins 20. Jahrhundert hinein um Ausnahmefälle.

Paradigmenwechsel: Die Frau und Talmud Tora seit der Haskala

Während fast 2‘000 Jahren waren die Rabbiner dem Thema Frau und Talmud Tora mit grösster Zurückhaltung begegnet. Zwar hatte sich im 12. Jahrhundert Maimonides‘ Kommentar zu Rabbi Eliesers Äusserung in mSota 3,4 als Meilenstein erwiesen, indem er Frauen damit ein vom Lernen der für sie relevanten Gebote losgelöstes Torastudium ermöglichte. Doch erst vor dem Hintergrund der Haskala ab dem ausgehenden 18. Jahrhundert sowie gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Umwälzungen im Europa des 19. Jahrhunderts kam es zu radikalen Neuinterpretationen von mSota 3,4. Diese Entwicklung mündete in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schliesslich in einen umfassenden Zugang zu Talmud Tora für orthodoxe jüdische Mädchen und Frauen. Parallel dazu erwirkte die Frauenbewegung ab dem späten 18. Jahrhundert grundlegende Verbesserungen für die Frau und deren Stellung in der Gesellschaft. [150] Neben Unabhängigkeit und Selbstbestimmung gehörte dabei schon früh auch der Zugang zu höherer Bildung zu den wichtigsten Zielen, [151] und Frauen- sowie insbesondere Frauenbildungsvereine setzten sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts auch für die demokratischen Rechte von Frauen ein. [152]
Die Anfänge einer institutionalisierten jüdischen Bildung für die Frau liegen im Deutschland des späten 18. Jahrhunderts, als sich die Maskilim der Schulung jüdischer Mädchen anzunehmen begannen. [153] 1798, 17 Jahre nachdem sie die erste Schule für jüdische Jungen eröffnet hatten, nahm in Hamburg die erste Schule für Mädchen ihren Betrieb auf. [154] In den Schulen der Aufklärer wurde jüdischen Fächern zwar wenig Beachtung geschenkt. [155] Die Institutionen der Maskilim waren aber beliebt und erfolgreich, und es ist der Bewegung gelungen, breite Bevölkerungskreise für die Bedeutung einer Mädchenerziehung zu sensibilisieren. [156] Als im Europa des 19. Jahrhunderts schliesslich immer mehr Staaten die Volksschule und die allgemeine Schulpflicht für Jungen und Mädchen eingerichtet hatten, begann sich auch die Orthodoxie Deutschlands mit der Mädchenerziehung zu befassen. [157] Im Vordergrund stand dabei das Ziel, die jüdische Identität zu stärken und damit den in den allgemeinbildenden Schulen vermittelten säkularen Werten etwas entgegenzusetzen sowie einer Assimilation oder Hinwendung zum liberalen Judentum entgegenzuwirken. [158]
Eine wichtige Rolle spielte dabei der in Frankfurt am Main wirkende Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808–1888). Er plädierte für eine erweiterte jüdische Bildung für Mädchen: Mit Ausnahme des Talmudstudiums sollten Jungen und Mädchen einen identischen Unterricht erhalten: [159]

«In der That sind auch Frauen nur nicht zur תורה-Gelehrsamkeit, zur wissenschaftlichen Gesetzeskunde zu führen, deren Aneignung und Überlieferung wesentlich zum Berufe eines jeden jüdischen Mannes gehören. Allein jenes Verständnis des jüdischen Schrifttums und jene Kenntnis, die zu einer wahren, zu gewissenhafter Pflichttreue führenden Gottesfurcht und zu einer vollen Pflichterfüllung gehören, die gehören zur Geistes- und Herzensbildung unserer Töchter wie unserer Söhne.» [160]

In Hirschs Visionen sind pädagogische Ideen der Maskilim eingeflossen.[161] Im Unterschied zu den Schulen der Aufklärer sollte den Schülerinnen und Schülern aber neben Allgemeinbildung auch ein umfassendes jüdisches Wissen vermittelt werden. Besonderen Wert legte Hirsch auf das Lehren der hebräischen Sprache. [162] Die Hebräischkenntnisse ermöglichten den Lernenden einen autonomeren Zugang zu biblischen Schriften und zu Teilen der rabbinischen Literatur als die seit dem Mittelalter üblichen, speziell auf Frauen zugeschnittenen Bibelbearbeitungen in der Umgangssprache Jiddisch. [163] Ein grösseres jüdisches Wissen sollte aber vor allem auch einer Stärkung und Festigung der mütterlichen Erziehungsaufgaben dienen: [164]

«Nicht die theoretische Unterweisung im Gesetze wird von unseren Müttern erwartet; aber (...) dass sie ihre Kinder anleiten und führen zum Gesetz, dass sie sie mit solchen Gefühlen, Bestimmungen und Vorsätzen erfüllen, die sie die Erkenntnis und die Erfüllung des göttlichen Gesetzes als ihre durch nichts zu ersetzende oder auch nur zu verdrängende Lebensaufgabe betrachten lassen, dass sie mit Luft und Liebe, mit Fleiss und Eifer zu dem lebendigen Quell der Thora-Erkenntnis wandeln und emsig und mit ewig wachsender Luft und Liebe daraus schöpfen, – das erwartet Gott zunächst von unseren Frauen, diesen ‹Müttern des Hauses Jakob›; und wie viel, wie hat Gott damit die ganze Zukunft seines Volkes in die Hände seiner Frauen gelegt!» [165]

1853 eröffnete Hirsch in Frankfurt am Main eine jüdische Schule für fünf- bis fünfzehnjährige Kinder, die sich aus rund zwei Dritteln Jungen und einem Drittel Mädchen zusammensetzte. [166] Letztere wurden in allen Fächern ausser in Talmud unterrichtet. [167] Diese schulische Praxis führte zu einem grundsätzlichen Wandel gegenüber der Bildung jüdischer Mädchen und Frauen: «It may be safe to say that for the first time in Jewish history, girls were privy to a superior formal religious education.» [168] In weiten Teilen Mitteleuropas galt das von der Religionspraxis losgelöste Torastudium für Frauen fortan nicht nur wie seit Maimonides als erlaubt, sondern es gab auch ein Bekenntnis zu dessen aktiver Unterstützung und Förderung.
Im vom Chassidismus geprägten Osteuropa erfolgte diese Entwicklung später. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts war das jüdische Bildungswesen vorwiegend auf die Jungen ausgerichtet, die zuerst im Cheder und danach in Jeschiwot (Talmudhochschulen) mit der rabbinischen Literatur vertraut gemacht wurden. [169] Die Mädchen hatten jedoch seit der Einführung der Schulpflicht ab Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend Zugang zu einer säkularen Bildung, und ihre vernachlässigte jüdische Erziehung bildete dazu einen grossen Gegensatz. [170] Die Folge dieses Ungleichgewichts war eine zunehmende Entfremdung vom orthodoxen Judentum: Viele osteuropäische Jüdinnen begannen entweder ein assimiliertes oder ein liberaleres jüdisches Leben zu führen. [171]
Einer, der dieser Entwicklung entgegenwirken wollte, war der litauische Rabbiner Israel Meir Hakohen Kagan (Chafetz Chaim; 1838–1933), der in einer akzentuierten Äusserung jüdische Bildung für Frauen als «grosse Mizwa» [172] (מצווה רבה) bezeichnet hatte. Er begründete seine Haltung mit den gesellschaftlichen Veränderungen seiner Zeit:

«‹Wenn jemand seine Tochter Tora lehrt (...)›: [173] Mir scheint, dass dies nur in vergangenen Zeiten galt, als die familiäre Tradition ausserordentlich stark war und sich alle an die Traditionen ihrer Vorväter hielten, wie geschrieben steht: ‹Frag deinen Vater, dass er dir es künde› [Deuteronomium 32,7]. So gesehen könnten wir sagen, dass eine Tochter nicht Tora zu lernen braucht, sondern sich am Verhalten ihrer aufrichtigen Eltern orientierten soll. Heutzutage jedoch, angesichts unserer vielen Sünden, erweist sich die familiäre Tradition als sehr geschwächt, und sie [die noch nicht verheiratete Tochter] hält sich zuweilen nicht mehr im elterlichen Haushalt auf. Es ist [deshalb] sicherlich eine grosse Mizwa, denjenigen [Töchtern], die es sich selbst angewöhnt haben, die Schrift und die Sprache der Nichtjuden zu studieren, die Tora zu lehren sowie auch die Propheten und die Schriften und die ethischen Werke unserer Weisen (...), um so ihr Interesse an unserem heiligen Glauben zu festigen.» [174]

Kagan plädiert dafür, die jüdische Identität der Mädchen und jungen Frauen durch Wissensvermittlung zu stärken, denn «ansonsten besteht die Gefahr, dass sie vom Weg Gottes abkommen und die Grundsätze der Religion verletzten, Gott bewahre.» [175] Wie Hirsch klammerte Israel Meir Hakohen Kagan jedoch das Talmudstudium von der jüdischen Bildung der Mädchen aus, und auch ihm ging es um das Bewahren des traditionellen Judentums mit dessen unterschiedlichen Aufgaben und Rollen für Mann und Frau. [176]

Sarah Schenirers «Beit Ja‘akow»-Schulen

Hinter einem weiteren Meilenstein auf dem Weg zu höherer jüdischer Bildung für die Frau steht das für ihre Zeit und ihr Umfeld aussergewöhnliche Engagement einer jungen Frau: Sarah Schenirer. Die 1883 in Krakau geborene und in einer zur chassidischen Belzer-Bewegung gehörenden Familie aufgewachsene Schenirer wurde 1914 in Wien für das Thema sensibilisiert. Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs war sie mit ihrer Familie in die österreichisch-ungarische Metropole übersiedelt. Dort begegnete sie Mosche Flesch, einem Rabbiner und Anhänger der Schulen Samson Raphael Hirschs. Fleschs Darstellung der apokryphischen Judith als jüdische Heldin, die Sarah Schenirer im Dezember 1914 in seiner Chanukka-Rede hörte, löste in ihr eine Auseinandersetzung mit der Geschichte und der Bedeutung der Frau im Judentum aus. Dieser Prozess mündete 1917, nach ihrer Rückkehr nach Krakau, in die Idee, eine Bildungsinstitution für jüdische Frauen aufzubauen. [177]
Bereits ein Jahr später, im selben Jahr, in welchem der 80-jährige Israel Meir Hakohen Kagan jüdische Bildung für Frauen zu einer «grossen Mizwa» erklärte, eröffnete Schenirer unter dem Namen «Beit Ja’akow» [178] in Krakau die erste Schule. [179] Eine wichtige Voraussetzung für die rasche Umsetzung ihres Projekts war dessen Unterstützung durch die Rabbiner der Belzer- sowie der ebenfalls chassidischen Gerer-Bewegung. [180] Die meisten der 25 Mädchen, die zu den ersten Schülerinnen der «Beit Ja’akow»-Schule gehörten, kamen aus dem Kreis der Gerer Chassidim. [181] Wie Hirsch und Kagan wollte auch Schenirer die jüdische Identität ihrer Schülerinnen stärken. [182] Der Unterricht umfasste sowohl jüdische als auch säkulare und berufsbildende Fächer, jedoch kein Talmudstudium. [183] Mithilfe dieses Modells gelang es, zwischen der familienorientierten jüdischen Lebenswelt der Mädchen auf der einen und der Haskala sowie dem nichtjüdischen Umfeld auf der anderen Seite Brücken zu bauen: «Bais̀ Ya’akov represented a synthesis of Polish Hasidic piety and Western enlightenment.» [184]
Trotz Opposition sowohl von links als auch von rechts war Sarah Schenirers Schule erfolgreich: [185] 1919 besuchten 300 Mädchen den Unterricht, und 1937 war «Beit Ja’akow» zu einer Bewegung geworden, die in Ost- und Mitteleuropa 250 Schulen mit 38'000 Schülerinnen umfasste. [186]
65 Jahre lagen zwischen der Eröffnung der ersten Schule Samson Raphael Hirschs und jener von Sarah Schenirer. Hirschs Schulen hatten Schenirer als Modell gedient. [187] Doch erst den «Beit Ja’akow»-Schulen sollte es gelingen, in der orthodoxen Bevölkerung eine breite jüdische Bildung für Frauen zu einer Selbstverständlichkeit zu machen:

«(...) the founding of the Beth Jacob movement cannot be considered the initial stage of formal religious education for girls, but it can be considered the initial movement that won popular support and succeeded in widespread Orthodox Jewish education for women.» [188]

Nach dem Krieg wurden in Israel, in den USA sowie in Europa Hunderte von «Beit Ja’akow»-Schulen neu gegründet. Zwar hat die Bewegung in charedischen Kreisen zunehmend an Akzeptanz gewonnen. [189] In den Hintergrund getreten ist seit den fünfziger Jahren allerdings die Verbindung von Tradition und Moderne, auf die Sarah Schenirer einst viel Wert gelegt hatte. So wird in zeitgenössischen «Beit Ja’akow»-Schulen beispielsweise säkularer Bildung nur wenig Beachtung geschenkt. [190]

Teil 3: Spätes 20. und frühes 21. Jahrhundert

Eintritt in die lernende Gemeinschaft: Die Frau und Talmud Tora seit den siebziger Jahren

Der Paradigmenwechsel in der Haltung gegenüber jüdischer Bildung für Mädchen und Frauen führte ab den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts zu einem Zugang zur gesamten rabbinischen Literatur. Pointiert äusserte sich in den achtziger Jahren dazu etwa Menachem M. Schneerson (1902–1994), Rabbiner und von 1951 bis zu seinem Tod an der Spitze der chassidischen Chabad-Bewegung, indem er Talmud Tora für Frauen nicht nur für erlaubt, sondern darüber hinaus auch für eine Notwendigkeit erklärte:

«(...) it is permissible [for women] to study the Oral Law. More than this, according to the very reasoning of the Halakhah, it is really necessary to teach them the Oral Law.» [191]

Wie radikal die sich wandelnde Haltung gegenüber Talmud Tora für die Frau war, illustriert eine Aussage, in der sich Schneerson Rabbi Eliesers Vokabular bediente, um das Gegenteil auszusagen: «(...) if one keeps their learning on a minimal level, that is teaching them tiflut, trivia.» [192] Nun, unter veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, lehrt derjenige Mädchen und Frauen תפלות, Ausgelassenheit, der nicht dafür sorgt, dass sie eine ausreichende jüdische Bildung erhalten. [193]
Wie Kagan begründete Schneerson seine Haltung mit der sich seit dem 19. Jahrhundert stark veränderten Rolle der Frau in der Gesellschaft. Insbesondere mit Blick auf ihre hohen beruflichen Qualifikationen sollten sich die Frauen auch auf das Wertesystem der jüdischen Tradition abstützen können. [194] Das jüdische Wissen sollte die Frauen, so Schneersons Hoffnung, aber auch dazu bringen, ihre Ehemänner und Kinder zu Talmud Tora zu motivieren: «(...) women are now able to actively encourage them by participating in the actual study.» [195] Zwar agiert die von Schneerson skizzierte Frau noch immer als Stütze der Familie, im Gegensatz zum traditionellen Ideal aber, wie es der Talmud einst beschrieben hatte, [196] ist sie zu einer aktiv Handelnden und zu einem Mitglied der Lerngemeinschaft geworden, und die erworbenen Kenntnisse befähigen sie nun auch zu einem selbständigen Vertiefen des jüdischen Wissens sowie zum über das praxisbezogene Lernen hinaus gehenden Tora Lischma.
1980 forderte der Jerusalemer Religionsphilosoph Yeshayahu Leibowitz (1903–1994) für Frauen einen uneingeschränkten Zugang zum jüdischen Wissen, welches ein allen Menschen gleichermassen zustehendes Recht sei:

«Keeping women away from Talmud Torah is not to exempt them from a duty (as is the case with some other Mitzvoth) but is rather to deprive them of a basic Jewish right.» [197]

Ebenso wie Schneerson, Kagan, Hirsch und andere argumentierte auch Leibowitz mit dem Bewahren des Judentums: «Jewish religious society will not be able to survive if, for pseudo-religious reasons, we continue to deprive women of their due rights.» [198] Er betonte, dass die Halacha auch aus der Perspektive veränderter sozialer Rahmenbedingungen betrachtet werden müsse. Mit Blick auf die Gesellschaft der Gegenwart, an der Männer und Frauen gleichermassen teilhaben, sowie auf die Bedeutung von Talmud Tora als Zugang zum Judentum und zu dessen Kultur, erklärte er:

«The issue of Talmud Torah, the study of Torah in its most inclusive sense, is an entirely different matter.
This too is a Mitzvah, one of utmost importance. The upshot of discussions throughout halakhic history was the general acceptance of the principle that women are barred from study of Torah at its higher level. This is a grievous error and is likely to prove disastrous for historical Judaism. For besides its significance as the performance of a Mitzvah, Talmud Torah enables the Jewish person to share the Jewish cultural heritage and its spiritual content. One might almost say that it makes the student party to the presence of the Shekhinah in Israel.» [199]

Talmud Tora müsse, so Leibowitz, für Männer und Frauen ebenso Pflicht wie Privileg sein. [200]
Aus einer halachischen Perspektive behandelte der Posek Yehuda Henkin das Thema Talmud Tora für Frauen. In einer aus dem Jahr 1991 stammenden Stellungnahme erklärte er, dass die mündliche Lehre – die Mischna sowie deren Erläuterungen – einen mit der schriftlichen Tora vergleichbaren Stellenwert habe, seit sie von den Tannaiten niedergeschrieben worden war. [201] Ebenso wie das Lehren der Tora sei deshalb auch das Lehren der rabbinischen Literatur erlaubt: «The same applies to teaching women: now that the Talmud is in writing, tiflut no longer applies because women take the written word seriously.» [202] Ausserdem habe sich, so der in Israel lebende Henkin, Maimonides‘ Verbot – er bezeichnet es an anderer Stelle auch als «general recommendation» [203] –, Frauen Mischna zu lehren, ausschliesslich auf Vater und Tochter bezogen. [204]
Auch die beiden zeitgenössischen Rabbiner Michael Broyde (USA) und Shlomo Brody (Israel) betrachten das Thema Talmud Tora für die Frau aus halachischer Sicht. Sie unterscheiden zwischen veränderbarer und nicht veränderbarer Religionspraxis und erklären, dass Anpassungen möglich seien, wenn eine gängige Praxis lediglich auf Tradition gründe:

«When the Orthodox community, its leaders, and its poskim feel that circumstances have changed and that the needs of a time are such, any practice that is permitted as a matter of technical Jewish law receives halakhic mandate, even if it has never been done within the Orthodox community. That is exactly what occurred a century ago with the expansion of women’s Torah education.» [205]

Die rabbinische Literatur enthält kein explizites Verbot von Talmud Tora für Frauen. Die Haltung gegenüber einem Zugang von Frauen zu biblischen und insbesondere rabbinischen Schriften sowie die diesbezügliche Praxis haben sich jedoch seit Rabbi Eliesers und Ben Asais in der Mischna überlieferten Äusserungen stark gewandelt. Frauen an Talmud Tora teilhaben zu lassen, dient im Judentum der Gegenwart dazu, die Tradition zu wahren. [206] Gleichzeitig entwickelt sich daraus aber auch eine neue Dynamik: Frauen mit höherer jüdischer Bildung haben zunehmend den Anspruch, ihr Wissen auch beruflich zu nutzen. [207]

Höhere jüdische Bildung

Während Sarah Schenirer 1918 das eigentliche Talmudstudium für Frauen noch nicht zu beanspruchen wagte, gewährt seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts eine wachsende Zahl von Schulen und Institutionen in Israel und in den USA Frauen Zugang zu Talmud Tora. [208] Den Anfang machte 1976 Michlelet Beruria in Jerusalem, die als erste Institution in Israel Frauen eine umfassende und sich am Modell der Jeschiwot orientierende jüdische Bildung ermöglichte. [209] Seither sind in Israel rund 40 weitere ähnliche Institutionen entstanden, darunter Matan 1988 und Nishmat 1990. [210]
Insbesondere in Israel hat Talmud Tora für Frauen in allen Kreisen der orthodoxen Bevölkerung seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert einen sehr hohen Stellenwert erlangt. «The measure of social status and success is the extent of Torah study, or in other words, the level of Torah scholarship», beurteilt Chana Kehat, Gründerin des israelischen orthodox-feministischen Frauenforums «Kolech», diese Entwicklung. [211] Der Zugang zu umfassendem jüdischen Wissen habe orthodoxen jüdischen Frauen, so Kehat, zu mehr Autonomie verholfen und ihnen auch ermöglicht, dieses Wissen beruflich zu nutzen. [212]
Der jüdischen Frauen in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend eröffnete Zugang zu Talmud Tora und ihre aus dieser Entwicklung resultierenden veränderten Aufgaben und Rollen in Familie und Gesellschaft wirken sich auch auf das Beziehungsgefüge zwischen den Geschlechtern aus. Diesem Veränderungsprozess müssten sich, so die israelische Pädagogin Bilha Admanit, sowohl Frauen als auch Männer stellen: Die Frauen müssten ihre Stellung im Judentum verändern wollen und die Männer einen gleichwertigen Status von Mann und Frau anerkennen. [213]
Dieser Prozess erfolgt allerdings, wie sich in den vergangenen Jahrzehnten gezeigt hat, nicht zwingend zeitgleich: Häufig gehen einzelne Frauen durch konkretes Handeln und Schaffen von Tatsachen – auch gegen den Willen der rabbinischen Entscheidungsträger – einen Schritt voraus und bereiten so die für eine soziale Akzeptanz notwendige Basis vor. Frauen mit grossem jüdischen Wissen, die sich ab den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts in traditionelle Männerdomänen gewagt haben – etwa Toraexpertinnen wie Nechama Leibowitz (1905–1997), Ehefrauen von Rabbinern wie Paula Ackerman (1893–1989), die in den Gemeinden ihrer Männer auch rabbinische Aufgaben wahrnahmen, [214] oder die seit 2009 im Rabbinat einer orthodoxen jüdischen Gemeinde tätige Sara Hurwitz –, sind Beispiele dafür. [215]
Ähnliche Entwicklungen lassen sich in der römisch-katholischen und evangelisch-reformierten Kirche beobachten: Auch hier trug der Zugang zu den Bildungsinstitutionen – insbesondere die Zulassung zu Theologiestudium, Promotion und Habilitation [216] – vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Umwälzungen entscheidend dazu bei, dass sich jahrhundertealte Strukturen zu verändern begannen und sich Frauen in Kirche und Universität berufliche Tätigkeitsfelder eröffneten. Eine für diesen Prozess zentrale Rolle spielten auch hier die feministische Bewegung sowie Wegbereiterinnen und Exponentinnen wie Gertrud Heinzelmann (1914–1999) oder Mary Daly, die ab den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts – fast zeitgleich mit der jüdisch-feministischen Bewegung – einen gesellschaftlichen Diskurs zur Stellung der Frau in der Kirche initiierten. [217]

Frauen in klassischen Männerberufen

Die vereinzelten gelehrten jüdischen Frauen, die es seit tannaitischer Zeit gegeben hatte, vermochten die Bildungsmöglichkeiten anderer Frauen nicht zu verbessern. Das sollte sich erst im 20. Jahrhundert ändern: Die insbesondere in Israel und in den USA wachsende Zahl von Frauen mit umfassendem jüdischen Wissen beeinflussen seit den siebziger Jahren den Stellenwert jüdischer Bildung für Mädchen und Frauen und die Angebote von Bildungsinstitutionen. Tamar Ross vertritt die Meinung, dass Frauen mit höherer jüdischer Bildung auch Wesen und Werte des Judentums verändern werden:

«In addition to introducing shifts in the traditional balance of power between the sexes that has been the norm in religious society for generations, women’s learning may also introduce alternatives to the exclusive hold that male ways of thinking have had on determining the contents and cultural values of the religious tradition.» [218]

Frauen, die bisher Männern vorbehaltene Berufe ergreifen, tragen wesentlich zu diesem Prozess bei. Die im Folgenden vorgestellten Tätigkeiten vermitteln anhand einer Auswahl beispielhafte Einblicke in Entwicklungen, die seit den neunziger Jahren in Israel und in den USA zu beobachten sind.

a) Torawissenschafterin und Talmudistin in Lehre und Forschung

Eine der ersten Frauen des 20. Jahrhunderts, die ihr jüdisches Fachwissen zum Beruf machten, war eine Toraexpertin: Nechama Leibowitz, 1905 in Riga geboren und 1930 ins damalige Palästina ausgewandert, hat ihre eigene Technik der Toraauslegung entwickelt und wurde in breiten jüdischen Kreisen zu einer anerkannten Bibelkennerin, einer «Torah educator par excellence». [219] 1957 wurde sie mit dem renommierten «Israel Prize for Education» ausgezeichnet, 1968 nahm sie ihre Tätigkeit als Professorin für Bibelwissenschaft an der Tel Aviv University auf. [220] Ebenfalls als anerkannte Bibelexpertin und -kommentatorin hauptberuflich tätig ist die 1944 in London geborene Literaturwissenschafterin und Judaistin Avivah Zornberg. Seit den achtziger Jahren hat sie in verschiedenen orthodoxen Institutionen Israels, darunter am Jerusalemer «Pardes Institute», unterrichtet. [221]
Mit Blick auf die historische Entwicklung des halachischen Diskurses zu Talmud Tora für die Frau ist es kein Zufall, dass die ersten jüdischen gelehrten Frauen Expertinnen auf dem Gebiet der Tora und nicht auf jenem des Talmuds waren. Hinzu kommt, dass beide, Leibowitz ebenso wie Zornberg, sich in ihrer Arbeit nicht spezifisch auf Frauenthemen oder feministische Fragestellungen konzentriert haben.
Das ist bei Judith Hauptman anders: Die Pionierin in der bisher Männern vorbehaltenen Welt des Talmuds ist unter anderem für ihre jüdisch-feministische Forschung bekannt. [222] Die 1943 in New York geborene Hauptman hat als erste Frau im talmudischen Fachgebiet promoviert; ihre Dissertation hatte sie in den siebziger Jahren am Seminary College of Jewish Studies des Jewish Theological Seminary in New York geschrieben. [223]«I might have tried to be a rabbi if the option had been available to me», sagte Hauptman 1984 in einem Interview. [224] Stattdessen wurde sie zunächst Professorin für Talmud und Rabbinische Literatur am Jewish Theological Seminary und Wegbereiterin für zahlreiche andere Frauen:

«As the first female member of the faculty in the field that lay at the heart of the rabbinical curriculum, she stood, to others, as an exemplar of the woman as rabbinical scholar.» [225]

Talmudistinnen sind nach wie vor nicht die Norm, im 21. Jahrhundert sind sie aber auch keine Ausnahmeerscheinung mehr. Am Jewish Theological Seminary etwa lehrten und forschten 2012 neben Judith Hauptman auch die Talmud-Professorinnen Marjorie Lehman (Associate Professor) und Beth Berkowitz (Assistant Professor), und an der Tel Aviv University ist Vered Noam als Talmud-Professorin tätig. [226]
Darüber hinaus beteiligt sich eine wachsende Zahl von Frauen mit fundiertem talmudischem Wissen in wissenschaftlichen Beiträgen an zeitgenössischen halachischen Diskursen. Der 1998 in Jerusalem erschienene Sammelband «Jewish Legal Writings by Women» beispielsweise enthält Beiträge zu für Frauen relevanten halachischen Themen. Unter den 17 Autorinnen sind oder waren mehrere in Institutionen für höhere jüdische Bildung wie Pardes, Drisha, Matan oder Nishmat tätig. [227] Und unter der Leitung von Tal Ilan erarbeitet zurzeit ein Team von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern einen feministischen Kommentar zum Babylonischen Talmud. [228]

b) Jo’ezet Halacha (halachische Beraterin)

Frauen mit Fragen zur konkreten Handhabung der Reinheitsgesetze in der Ehe (Taharat haMischpacha) wenden sich traditionell an ihren Gemeinderabbiner. Weil es sich vorwiegend um intime Themen handelt, sind die Hürden für ein solches Beratungsgespräch jedoch hoch. Das hat Chana Henkin, Gründerin und Leiterin der Jerusalemer Institution «Nishmat» (Jerusalem Center for Advanced Torah Study for Women), 1997 dazu bewogen, Frauen für diesen rabbinischen Teilbereich auszubilden. [229] Frauen sollten, so Henkin, bei der Befolgung der Vorschriften von Taharat haMischpacha von Frauen unterstützt werden: «In order to meticulously observe the Halakha, women need women!» [230] Dazu hat sie einen neuen Beruf geschaffen: jenen der Jo’ezet Halacha, der halachischen Beraterin. In einer zweijährigen Ausbildung werden die Studentinnen mit den halachischen Grundlagen der Reinheitsgesetze in der Ehe vertraut gemacht, werden psychologisch geschult und erwerben medizinische Kenntnisse in den Fachbereichen Gynäkologie und Sexualität.
Bevor Chana Henkin den Studiengang entwickelte, hatte sie die rabbinische Literatur zum Thema Rechtssprechung durch Frauen analysiert und dokumentiert. Sie zeigte auf, dass es halachisch explizit auch einer Frau – die rabbinische Literatur spricht von einer gebildeten Frau (אשה חכמה) – erlaubt ist, halachische Entscheidungen zu treffen [231] (לפסק). Henkin war sich bewusst, dass die Rechtssprechung ein Teilgebiet des Rabbinats ist und damit traditionell nicht zu den Aufgaben einer Frau gehört. Sie hat denn auch stets betont, dass im Vordergrund die Vermittlung von Kompetenzen für eine korrekte Befolgung von Taharat haMischpacha stehe und die Jo’azot Halacha weder Rabbiner ersetzten noch beabsichtigten, Rabbinerinnen zu werden. [232] Zudem ist mit der Jo’ezet Halacha ein neuer Beruf geschaffen worden, der nur eine der rabbinischen Aufgaben wahrnimmt, noch dazu in erweiterter Form – mit zusätzlichen Kompetenzen in Psychologie und Medizin – sowie in enger Zusammenarbeit mit Rabbinern und medizinischen Fachpersonen. Die Jo’ezet Halacha erfüllt damit gleichzeitig zwei Funktionen: Sie ist sowohl für halachische als auch für medizinische Fragen eine Ansprechpartnerin. [233] Abgesehen von anfänglicher Kritik ist es Henkin weitgehend gelungen, öffentliche Kontroversen rund um Studium und Beruf der halachischen Beraterinnen zu vermeiden. [234]

Dazu beigetragen hat auch die grosse Nachfrage nach dem neuen Angebot. 2011 waren in Israel rund 60 Frauen als Jo’azot Halacha tätig, und seit die ersten Studentinnen ihre Ausbildung 1999 abgeschlossen haben, beantworteten die halachischen Beraterinnen mehr als 100‘000 Fragen. [235] Die Frauen arbeiten an einem Nishmat angeschlossenen Zentrum [236] und sind telefonisch sowie über eine zweisprachige Website (Hebräisch und Englisch) erreichbar. [237] Auch ein persönliches Gespräch mit einer Jo’ezet Halacha ist möglich. Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass die Jo’azot Halacha auch für über den Bereich von Taharat haMischpacha hinausgehende frauenrelevante Themen kontaktiert werden. Geschätzt wird an den halachischen Beraterinnen unter anderem, dass sie die Reinheitsgesetze in der Ehe aus eigener Erfahrung kennen, sich im Gegensatz zu einem Gemeinderabbiner auf den spezifischen Bereich von Taharat haMischpacha konzentrieren und sich darin ein entsprechend umfassendes Wissen aneignen können, sowie dass sie in ihren Antworten auch die halachischen Grundlagen erläutern. Für Verunsicherung sorgt hingegen, dass der Beruf der Jo’ezet Halacha neu ist und deshalb erst über wenige Jahre Praxis und Erfahrung verfügt. Zudem wirkt sich die Autorität des Rabbiners häufig positiv auf das Vertrauen der Rat suchenden Frauen aus. Dennoch gehören teilweise auch Männer zu den Nutzenden des Fachwissens der halachischen Beraterinnen. [238]
Für die beiden Jo’azot Halacha Tova Ganzel und Deena Rachel Zimmermann, welche die telefonischen und elektronischen Anfragen der ersten zwölf Jahre analysiert haben, ist die Weiterentwicklung des neuen Berufsfeldes noch völlig offen:

«As for the future parameters of the role of yo‘atzot, time will tell. We do not yet know how the of yo‘atzot halakhah will affect wider circles of rabbis. It is not clear whether they will remain an important address only for couples with questions in the area of toharat hamishpahah or whether they will become halakhic professionals in additional fields as well.» [239]

Die Jo’ezet Halacha vermochte sich in Israels modern-orthodoxen Kreisen zu etablieren, während es in den USA nur vereinzelt halachische Beraterinnen gibt. [240] In den beiden jüdischen Zentren der Gegenwart zeichnen sich generell unterschiedliche Entwicklungen der beruflichen Tätigkeitsbereiche orthodoxer Frauen mit höherer jüdischer Bildung ab: Während sie in Israel vorwiegend in Institutionen tätig sind, arbeiten sie in den USA eher in jüdischen Gemeinden. [241]

c) Die Frau im Rabbinat (Teil 1): Congregational Intern, Madricha Ruchanit

«There is nothing wrong with a woman learning as much Torah as a man, and ‹smicha› now is not the traditional ‹smicha› anyway, so that being a rabbi means no more than that one has a law degree in Jewish law.» [242]

Der Rabbiner steht in der jüdischen Tradition für den Lehrer, den Meister und Fachmann für Tora und rabbinische Literatur. Zu den Hauptaufgaben des Gemeinderabbinats gehören das Unterrichten, das Treffen halachischer Entscheidungen (Rechtssprechung), die Beratung von Gemeindemitgliedern in halachischen Fragen sowie juristische Funktionen beispielsweise im Zusammenhang mit Übertritten zum Judentum oder Scheidungen. [243] Die wichtigsten Voraussetzungen für diese Arbeit bilden jüdisches Wissen und Zugang zu diesem Wissen – was ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch Frauen zunehmend hatten.
Dennoch sollte es Jahrzehnte dauern, bevor an Rabbinerseminarien Frauen ordiniert wurden: Im liberalen Judentum erhielt mit Sally Priesand 1972 die erste Frau eine Ordination, im konservativen Judentum war es Amy Eilberg im Jahr 1985. [244] Im orthodoxen Judentum ordinierte bisher keine Institution Frauen zu Rabbinerinnen. [245] In den USA gibt es aber seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert erste orthodoxe Gemeinden, in welchen Frauen einzelne rabbinische Aufgaben wahrnehmen. [246] In zwei New Yorker Gemeinden beispielsweise arbeiteten ab den späten neunziger Jahren erstmals Frauen als Gemeindepraktikantinnen (congregational interns). [247] In dieser Funktion nahmen sie ähnliche Aufgaben wahr wie Rabbinatsassistenten: «In short, the position entails being part of the rabbinic staff of the shul», sagt die New Yorker Gemeindepraktikantin Shayna B. Finman. [248] Gemeindepraktikantinnen verfügten denn auch über ein entsprechend umfassendes jüdisches Wissen. Dasselbe gilt für die Madricha Ruchanit (geistiges Oberhaupt), die mancherorts die Funktion der Gemeindepraktikantinnen abgelöst hat. [249] Die Gemeinde «Hebrew Institute of Riverdale» in New York beschäftigte 2001 erstmals eine Madricha Ruchanit und beschreibt deren Aufgaben sowie deren Abgrenzung gegenüber einem Rabbiner folgendermassen:

«The Madricha Ruchanit of the Hebrew Institute of Riverdale is a member of the professional religious leadership team of the Congregation. Together with the Rabbis, she provides religious education and counseling. She helps guide people in matters of ritual performance and ethical conduct. She instructs brides and grooms, and candidates for conversion. She helps shape the celebration of life cycle events. She visits the sick and directs Shiva minyanim in the homes of mourners. (…) The Madricha Ruchanit of the Hebrew Institute of Riverdale is not a Poseket Halakha, nor can she perform ritual actions in the Synagogue, or at weddings (…), which Halakha limits to males.» [250]

Sara Hurwitz, eine Nachfolgerin Finmans als Madricha Ruchanit, beziffert den halachisch für Frauen nicht zugänglichen Teil der rabbinischen Tätigkeiten mit rund fünf Prozent. [251] Sowohl als Congregational Intern als auch als Madricha Ruchanit nehmen Frauen in jüdischen Gemeinden denn auch die meisten rabbinischen Aufgaben wahr. Doch obwohl Hurwitz in ihrer Funktion als Madricha Ruchanit von sich sagte, sie sei «a de facto rabbinic figure», [252] verfügen eine Congregational Intern und eine Madricha Ruchanit nicht nur über einen vom Rabbiner abweichenden Titel, sondern insbesondere in den Bereichen Rechtssprechung und Ritual auch über weniger Kompetenzen. Quantitativ ist die Differenz zwischen einem Rabbiner und einer Madricha Ruchanit oder Congregational Intern zwar klein, im Alltag vor allem kleinerer Gemeinden mit nur einem Rabbiner kann sie jedoch von grosser Relevanz sein. Allerdings spielt auch der Zeitfaktor eine Rolle: [253] Frauen in rabbinischen Funktionen zeugen von einer neuen Entwicklung, und sowohl für die Definition der Aufgabenbereiche als auch für die Festlegung des Titels bedarf es im orthodoxen Judentum einer Konsolidierung. [254]

d) Die Frau im Rabbinat (Teil 2): Maharat, Rabba

2009 und 2010 hat das «Hebrew Institute of Riverdale» weitere Schritte in Richtung Frau im Rabbinat unternommen. Im März 2009 haben Avraham (Avi) Weiss, langjähriger Rabbiner der New Yorker Gemeinde, sowie Daniel Sperber, Talmud-Professor an der israelischen Bar-Ilan-Universität und Rabbiner, Sara Hurwitz den neu geschaffenen Titel Maharat verliehen. Maharat ist eine Abkürzung für מנהיגה הלכתית רוחנית תורנית und steht für «Oberhaupt für Halacha, Spiritualität und Tora». Bei der Titelverleihung («conferral ceremony») und in für diesen Anlass zusammengestellten Responsen wurde konsequent auf den Begriff «Ordination» verzichtet. Dennoch gab es unmissverständliche Bekenntnisse zur rabbinischen Aufgabe und Rolle Hurwitz’. In seiner Ansprache beschrieb Weiss die Funktion des Titels Maharat als «(...) full communal, congregational, religious leader, a full member of the clergy, leading with the unique voice of a woman.» [255] Yoel Bin-Nun, Leiter der israelischen «Yeshivat Kibbutz Hadati» (Talmudhochschule der orthodoxen Kibbuzbewegung), erläuterte in seinem Responsum, dass eine gebildete Frau (אשה חכמה) die regulären Aufgaben eines Gemeinderabbiners wahrnehmen könne:

«(…) an Isha Hakhama can teach and instruct, according to all of the opinions, and a community can accept upon themselves an Isha Hakhama as their teacher (Morah) in Torah, in all of the regular roles of a community and synagogue rabbi, and there is no aspect of suspicion or prohibition, even according to the strict positions in Halakha on this issue. And in any case it is clear that there is no concern in this, not from the aspect of ‹positions of power› (שררה) for a woman, since they accepted her upon them, and not from a modesty (tzniut) perspective, since we are discussing suitable and wise women, who know the boundaries of tzniut.» [256]

Als Mitglied des aus drei Personen bestehenden Rabbinats tut Hurwitz seither im «Hebrew Institute of Riverdale» fast alles, was ihre beiden männlichen Berufskollegen tun: Sie berät die Mitglieder ihrer Gemeinde – Frauen ebenso wie Männer – in halachischen Fragen, unterrichtet, hält Predigten oder führt Hochzeitszeremonien und Begräbnisse durch. [257] Doch es gibt auch Aufgaben, die nur ihre Kollegen wahrnehmen können: So kann sie etwa nicht Mitglied des aus mindestens drei Personen bestehenden Rabbinatsgerichts (Beit Din) werden oder Gottesdienste leiten. [258] Deshalb entspricht Weiss’ Aussage, Hurwitz sei ein «full member of the clergy», nicht ganz den Tatsachen – [259] auch wenn er in seinen Äusserungen auf den Rabbiner-Begriff verzichtet hat. [260] Die Verleihung des Titels Maharat war aber dennoch von grosser Bedeutung: Vermutlich hat nie zuvor eine Frau in einer orthodoxen jüdischen Gemeinde über so umfassende Kompetenzen verfügt wie Sara Hurwitz seit 2009 im «Hebrew Institute of Riverdale». [261]
In der Praxis machte Hurwitz schon bald die Erfahrung, dass der neu geschaffene Titel sich nicht durchzusetzen vermochte. Das veranlasste Avraham Weiss im Januar 2010, ihren Titel in «Rabba», die weibliche Form des hebräischen «Raw» (Rabbiner), umzuwandeln. [262] Während die Titelverleihung vom März 2009 in der jüdischen Öffentlichkeit nur wenig Aufsehen erregt hatte, führte die Umwandlung in «Rabba» – trotz unveränderter Funktion und Tätigkeit Hurwitz’ – [263] in weiten Teilen der Orthodoxie der USA zu kontroversen Debatten. Insbesondere die Verwendung des Rabbinats-Begriffs in Verbindung mit einer Frau sorgte für Irritation und Verunsicherung. Die Ordination von Frauen bedeute einen Bruch mit der jüdischen Tradition, erklärte zum Beispiel der charedische Rabbinerverband «Agudath Israel» am 25. Februar 2010 in einer Stellungnahme, und Gemeinden, die eine Frau als Rabbinerin beschäftigten, bewegten sich ausserhalb der Orthodoxie. [264] Am 27. April 2010 äusserte sich auch der orthodoxe «Rabbinical Council of America» (RCA), dem Weiss angehört:

«(...) we cannot accept either the ordination of women or the recognition of women as members of the Orthodox rabbinate, regardless of the title.» [265]

Doch schon zuvor war der vom RCA auf Avraham Weiss ausgeübte Druck so gross geworden, dass dieser im März 2010 erklärte, keinen weiteren Frauen den Titel Rabba zu verleihen.[266] Dies ist auch deshalb von grosser Relevanz, weil an der 2009 von ihm gegründeten Institution «Yeshivat Maharat» orthodoxe Frauen explizit für rabbinische Tätigkeiten in jüdischen Gemeinden ausgebildet werden. [267]
Das Fehlen eines eigentlichen halachischen Diskurses im Zusammenhang mit der Kontroverse nach der Verleihung des Rabba-Titels an Sara Hurwitz lässt die prinzipielle Möglichkeit von Frauen im Rabbinat vermuten: Nicht die einzelnen Aufgaben werden infrage gestellt, sondern der während Jahrhunderten dem Mann vorbehaltene Titel und die damit verbundene Autorität. [268] Michael J. Broyde und Shlomo M. Brody erklären denn auch, dass aus halachischer Sicht Frauen in der Rabbinerinnen-Funktion grundsätzlich möglich seien. [269] Allerdings lehnen die beiden Rabbiner die Verwendung des Rabbiner-Titels für Frauen vorläufig ab und plädieren gegenüber dem Thema Frau im Rabbinat für einen langsamen, konsensorientierten Prozess, um eine drohende Spaltung innerhalb der Orthodoxie zu vermeiden. Auch ohne entsprechenden Titel könnten Frauen, so Broyde und Brody, rabbinische Funktionen in orthodoxen Gemeinden einnehmen:

«Even without a rabbinic title, genuinely deserving women should receive appropriate kavod ha-Torah, and be included in all communal matters for which they are qualified to contribute, including those areas not related to ‹women’s issues.›» [270]

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts definieren im orthodoxen Judentum noch immer fast ausschliesslich Männer die Rollen und Funktionen der Frau sowie deren Erweiterungen oder Eingrenzungen – und damit auch die Zulassung der Frau zum Rabbinat sowie den damit verbundenen Titel. [271] Im liberalen und konservativen Judentum nehmen Frauen und Männer mit identischen Kompetenzen seit den späten siebziger bzw. frühen neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts in rabbinischen Entscheidungsgremien Einsitz und befinden gemeinsam über Gesetze, Strukturen und deren Wandel. [272]

Schlussbemerkungen

Talmud Tora für die Frau: «Vom ‹Verbot› zum ‹Gebot›»? Nein, lautet die Antwort streng genommen, denn in Tora und rabbinischer Literatur gibt es für die Frau weder ein explizites Verbot noch ein explizites Gebot gegenüber Talmud Tora. Selbst im 21. Jahrhundert, nachdem sie umfassenden Zugang zu höherer jüdischer Bildung erhalten hat, gelten die in der frühen rabbinischen Literatur verankerte Mizwa von Talmud Tora und das damit verbundene Verdienst halachisch ausschliesslich für den Mann. Und dennoch muss die Frage auch bejaht werden, denn die gelebte Praxis spiegelt nicht die im Gesetz beschriebene Theorie wider: Während Frauen seit der Antike nur in Ausnahmefällen über ein umfassendes jüdisches Wissen verfügt hatten, können sie seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts die gesamte rabbinische Literatur studieren und tun es auch. Mehr noch: Innerhalb der jüdischen Gesellschaft werden nicht mehr nur gebildete Männer, sondern auch gebildete Frauen angesehen und respektiert, und auch Letztere können ihr Wissen beruflich nutzen. Talmud Tora für die Frau: «Vom ‹Verbot› zum ‹Gebot›»? Aus halachischer Perspektive lautet die Antwort «nein», aus dem gesellschaftlichen, historischen und soziologischen Blickwinkel gesehen aber lautet sie «ja».
Der Widerspruch zwischen Halacha und Praxis ist im 21. Jahrhundert besonders auffällig, doch er ist nicht neu: Während Jahrhunderten hatte das Bild der Mutter als erste Lehrerin ihrer Söhne und Töchter die jüdische Erziehung geprägt, und obwohl ausschliesslich der Mann halachisch dazu verpflichtet war, erfolgte insbesondere die frühe Erziehung und Bildung der Kinder häufig durch die Mutter. [273] Joseph B. Soloveitchik beispielsweise erzählte von der ihn prägenden Vermittlung der geistigen Werte des Judentums durch seine Mutter, die er als תורת אמך (Tradition der Mütter) definierte. [274]
Doch auch im 21. Jahrhundert ist der Zugang zu höherem jüdischem Wissen für Frauen noch nicht ganz mit jenem für Männer vergleichbar. Die an der Yeshivat Maharat tätige Talmudistin Devorah Zlochower beobachtet zum Beispiel fehlende Unterstützung und Anerkennung aus dem näheren Umfeld einer studierenden Frau:

«Women who pursue advanced learning do not, as a rule, receive affirmation from parents and peers and may experience great ambivalence about their choice.» [275]

Auch Tamar Ross weist auf den noch weiten Weg bis zu einer Gleichstellung hin. Die Jo’azot Halacha beispielsweise nähmen zwar, so Ross, eine Poseket-Funktion wahr, ihre Tätigkeit werde aber anderes benannt. [276] Und Blu Greenberg, die Gründerin der in den USA beheimateten «Jewish Orthodox Feminist Alliance», macht auf die Bedeutung von Vorbildern, deren es noch zu wenig gebe, aufmerksam. [277] All dies nährt die verinnerlichte Haltung vieler Frauen, ihrer traditionellen Rolle in der Familie Priorität einräumen zu müssen, und eine damit verbundene Zurückhaltung gegenüber eigenen Bedürfnissen sowie eine Distanzierung vom Feminismus und dessen Forderungen. Chana Henkin fordert diese traditionelle Rolle beispielsweise explizit für gebildete Frauen ein; einen Essay über die Frauen offenstehende Möglichkeit, halachische Entscheidungen zu treffen, schliesst sie mit den Worten ab:

«When we create new role models for women’s religious leadership, we must ensure that they represent not only great learning but also personal piety, commitment to family and to chesed, and excellence in middot as well.» [278]

Die Haltung gegenüber Talmud Tora für die Frau hat sich innerhalb weniger Jahrzehnte radikal gewandelt. Ein vom Geschlecht unabhängiger, selbstverständlicher Zugang zu höherer jüdischer Bildung und insbesondere zum gesamten Spektrum der damit verbundenen Berufe vermochte sich jedoch bisher nicht vollständig zu etablieren.


 

Literaturverzeichnis

Primärliteratur

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Blog

Morethodoxy (Zev Farber, Barry Gelman, Sara Hurwitz, Yosef Kanefsky, Asher Lopatin, Hyim Shafner).

 

Podcast

Henkin, Chana; Henkin, Yehuda: New Religious Roles for Women: Yoatzot Halacha. Limmud Conference, University of Warwick, 29. Dezember 2009 ( [30. September 2012]).

 

Websites

Academy of Jewish Religion

Aviel Barclay

Columbia University

Council of Young Israel Rabbis in Israel

Daf Yomi

Hebrew Institute of Riverdale

Jewish Theological Seminary

Jewish Virtual Library

Jewish Women: A Comprehensive Historical Encyclopedia; Jewish Women's Archive

Kehilat Orach Eliezer

Nishmat

Ohel Ayalah

Ohr Torah Stone

Rabbinical Assembly (RA)

Rabbinical Council of America (RCA)

Shira Hadasha

Jen Taylor Friedman

Tel Aviv University

Yeshivat Maharat

Avivah Zornberg

 


 

[1] Awot deRabbi Nathan 14,2 zu mAwot 2,8 (deutsche Übersetzung aus: Awot deRabbi Nathan mit deutscher Übersetzung und Anmerkungen von Kaim Pollak. Basel 2009; Einfügung des hebräischen הבריות: vr).

[2] Sefer Hamizwot, positive Gebote, Gebot 11; Sefer Hachinuch, Gebot 419; Hirshman 2006, 908.

[3] Hirshman 2009, 3; Halbertal 1997, 6f.; vgl. auch Ross 2004, 30; der hebräische Begriff «Talmud Tora» hat zwei Bedeutungen: Er steht einerseits für das Studieren biblischer und rabbinischer Schriften und andererseits für Schulen, in welchen Jungen jüdisches Grundwissen vermittelt wird (Encyclopaedia Judaica 2007, Band 19, 269f., und Band 6, 177; Levi 1990, 156). Im Folgenden wird «Talmud Tora» in der erstgenannten Bedeutung verwendet.

[4] Die Frau ist zu den meisten Geboten verpflichtet; die Nichtverpflichtung zu einer Reihe von Geboten hat jedoch tief greifende Konsequenzen für ihren Status und ihre Religionspraxis (Rhein 2010, 70; Rhein 2007, 317; vgl. auch Fussnoten 23 und 122).

[5] Wo nicht anders erwähnt, ist mit den Begriffen «jüdisch» und «Judentum» im Folgenden das traditionelle orthodoxe Judentum und für die Gegenwart das modern-orthodoxe Judentum gemeint (vgl. dazu auch Fussnote 157).

[6] Einen umfassenden Überblick vermittelt Shoshana Pantel Zolty: «And All Your Children Shall Be Learned»: Women and the Study of Torah in Jewish Law and History. Northvale (NJ) 1993; vgl. u.a. auch Joel B. Wolowelsky (Hg.): Women and the Study of Torah. Essays from the Pages of Tradition. Hoboken (NJ) 2001.

[7] mPea 1,1; die Parallelstelle in bSchabbat 127a wurde später in das «Schacharit»-Gebet aufgenommen und ruft den Betenden so den besonderen Stellenwert von Talmud Tora täglich in Erinnerung (vgl. z. B. Siddur Schma Kolenu 1996, 23 und 25). In der rabbinischen Literatur befinden sich auch andere Aufzählungen, die mit כלם כנגד oder 031 (wiegt alles auf; wiegt alle [anderen] Gebote auf) schliessen, so etwa in tAwoda Zara 4,3 (im Land Israel wohnen) oder bSchawuot 29a (ציצית [Schaufäden]; Hirshman 2009, 17). Ein anderes Beispiel für die im Vergleich zu anderen Geboten höhere Gewichtung von Talmud Tora befindet sich im Jerusalemer Talmud im Traktat Berachot; dort wird von Rabbi Schimon ben Jochai berichtet, der sein Tora-Studium nicht unterbrach, um das 014-Gebet zu sprechen: «Rabbi Jochanan sagte im Namen des Rabbi Schimon ben Jochai: Wir, die wir uns dauernd mit dem Torastudium befassen, unterbrechen (dieses Studium) nicht, auch wenn es sich darum handelt, das Schema vorschriftsgemäss zu rezitieren» (jBerachot 1,2 3b; Hirshman 2006, 909).

Für Zitate aus Tosefta, Mischna und Gemara werden folgende Ausgaben und Übersetzungen verwendet: Rabbinische Texte. Erste Reihe: Die Tosefta. Band I: Seder Zeraim. 1.1: Berakot – Pea. Übersetzt und erklärt von Eduard Lohse und Günter Mayer. Stuttgart/Berlin/Köln 1999; The Tosefta. Translated from the Hebrew with a New Introduction by Jacob Neusner; 2 Bände. Peabody (MA) 2002; Mischnajot. Die sechs Ordnungen der Mischna. Hebräischer Text mit Punktation, deutscher Übersetzung und Erklärung. Basel 1968; Der Babylonische Talmud. Nach der ersten zensurfreien Ausgabe unter Berücksichtigung der neueren Ausgaben und handschriftlichen Materials ins Deutsche übersetzt durch Lazarus Goldschmidt; 12 Bände. Berlin 1929–1936; Übersetzung des Talmud Yerushalmi. Herausgegeben von Martin Hengel, Peter Schäfer, Hans-Jürgen Becker, Frowald Gil Hüttenmeister. Tübingen 1975f.; veraltete Ausdrücke und Orthografie aus Übersetzungen wurden angepasst; hebräische Begriffe in eckigen Klammern stammen von der Autorin.

[8] bKidduschin 40b; Levi 1990, 226f.

[9] mKidduschin 1,7 und bKidduschin 29a–b; die Väter werden verpflichtet, ihre Söhne zu unterrichten; vgl. dazu Fussnote 23.

[10] Lazarus Goldschmidt (1871–1950) erklärt dazu: «Das Studium der Gesetzeskunde ist an sich eine gottgefällige Handlung, auch wenn sie gar keinen praktischen Zweck hat» (Der Babylonische Talmud 1929f., Band 10 [1935], 147). Tamar Ross weist auf die zwei unterschiedlichen Formen des Studierens hin: «(...) study for the sake of the mitzvah as opposed to study for the sake of its fringe spiritual benefits» (Ross 2004, 84). Das von der Praxis unabhängige Lernen, das Lernen um des Lernens willen, wird im Hebräischen auch «Tora lischma» (תורה לשמע) genannt (Zolty 1993, 14). In der englischsprachigen Fachliteratur wird Talmud Tora in der Regel mit «Torah study» übersetzt.

[11] Plietzsch 2011, 10.

[12] Hirshman 2009, 3; Hirshman bezieht sich hier auf den Begriff «learning Torah»; vgl. auch Hirshman 2006, 899.

[13] Zolty 1993, 14.

[14] Safrai 1976, 945; vgl. auch Hirshman 2006, 923.

[15] Elon 1994, 212, Bezug nehmend auf bBejza 3b und bAwoda Zara 7a; vgl. aber auch Stemberger 2011, 144f.

[16] bMakkot 23b.

[17] Encyclopaedia Judaica 2007, Band 8, 230.

[18] Sefer Hamizwot, positive Gebote, Gebot 11; Sefer Hachinuch, Gebot 419.

[19] Deuteronomium 6,7; wo nicht anders vermerkt, basieren biblische Texte im Folgenden auf der Übersetzung von Naftali Herz Tur-Sinai (Harry Torczyner; Die Heilige Schrift; 4 Bände. Jerusalem 1954).

[20] In der von Gerhard Kittel ins Deutsche übersetzten Ausgabe von Sifre zu Deuteronomium (Stuttgart 1922), aus der dieser Wortlaut stammt, wird לבניך (Deuteronomium 6,7) zuerst mit «deinen Kindern» und danach mit «deinen Söhnen» übersetzt; in der von Gabriel Strenger ins Deutsche übersetzten Ausgabe des Sefer Hachinuch (Zürich 2002) wird das Zitat aus Sifre zu Deuteronomium 6,7 konsequent mit «deinen Kindern» übersetzt.

[21] Sifre zu Deuteronomium 6,7; Sefer Hamizwot, positive Gebote, Gebot 11; Sefer Hachinuch, Gebot 419.

[22] «Und lehrt sie [diese meine Worte; Deuteronomium 11,18] eure Kinder [את-בניכם], von ihnen zu reden, wenn du in deinem Haus weilst und wenn du auf dem Weg gehst, wenn du dich niederlegst und wenn du aufstehst» (Deuteronomium 11,19); «(...) Höre, Jsrael, die Gesetze und die Rechtsvorschriften, die ich heute vor euren Ohren verkünde; lernt sie und seid bedacht sie zu üben» (Deuteronomium 5,1). Das Sefer Hamizwot und das Sefer Hachinuch führen diese beiden sowie weitere Verse – etwa Deuteronomium 31,12 – ebenfalls auf, verbunden mit dem Hinweis, dass das Gebot von Talmud Tora in der Tora verschiedentlich wiederholt werde.

[23] «Zu allen Pflichten dem Sohne gegenüber, die dem Vater obliegen, sind Männer verpflichtet, Frauen aber davon befreit. (...) Zu allen Geboten, die an eine bestimmte Zeit gebunden sind, sind Männer verpflichtet, Frauen aber davon befreit» (mKidduschin 1,7; die mit «Pflichten» und «Geboten» übersetzten Worte beziehen sich beide auf den hebräischen Begriff (מצווה); von dieser Regel gibt es zahlreiche Ausnahmen (Berman 1973, 12f.; Ross 2004, 16; Rhein 2007, 314f.; vgl. auch bKidduschin 34a und Sefer Hamizwot, Bemerkungen zu den positiven Geboten).

[24] bKidduschin 29a–b.

[25] In Deuteronomium 10,12 steht ישראל, in der Fortsetzung wird teilweise im Singular das Individuum und teilweise im Plural das Volk angesprochen.

[26] Raschi (Schlomo ben Jizchak, 1040–1105) kommentiert Deuteronomium 11,19: «(...) Unsere Lehrer entnehmen hiervon, dass sobald das Kind zu sprechen anfängt, der Vater ihn in die heilige Sprache (לשון הקודש) einführe und in der Tora unterrichte (Raschi zu Deuteronomium 11,19; die deutsche Übersetzung basiert auf der Ausgabe von Julius Dessauer [Der Pentateuch. Die fünf Bücher Mosche mit worttreuer, deutscher Übersetzung. Nebst dem Raschi-Commentare punktiert, leichtfasslich übersetzt, und mit vielen erklärenden Anmerkungen versehen; 5 Bände. Ofen 1863]).

[27] bKidduschin 29b; der letzte Satz –«ihr sollt sie eure Söhne lehren, eure Söhne und nicht eure Töchter» stammt aus Sifre zu Deuteronomium 11,19.

[28] mJewamot 2,5; bJewamot 22b; vgl. auch Marcus Petuchowskis Kommentar zu mJewamot 2,5 (Mischnajot 1968, Band 3, 9f.) sowie Encyclopaedia Judaica 2007, Band 12, 725; Raschi kommentiert ובן אין- לו in Deuteronomium 25,5: «Siehe genau nach, ob ein Sohn oder eine Tochter da ist, oder der Sohn von einem Sohne, die Tochter eines Sohnes, oder die Tochter einer Tochter; da findet die Schwagerehe nicht statt»; vgl. auch die Argumentation der Töchter von Zelofad in bBawa Batra 119b. Umgekehrt gibt es auch Toraverse, in welchen explizit von Söhnen und Töchtern die Rede ist, so zum Beispiel in Exodus 21,4: «Wenn sein Herr ihm eine Frau gibt und sie ihm Söhne oder Töchter 015 geboren hat (...).» Anhand von Beispielen aus Sifre Deuteronomium, in welchen die Frage diskutiert wird, ob Frauen in den betreffenden biblischen Versen mitgemeint sind (darunter auch Deuteronomium 11,19), erklärt Tal Ilan: «Exclusion and inclusion are exegetical strategies, not statements about improvement or deterioration in women’s position» (Ilan 2001[b], 24).

[29] bKidduschin 34a; vgl. dazu Ilan 2010, 75: «Das heisst, dass uns ein legaler Beschluss, der als Verallgemeinerung formuliert wurde, zum klaren Denken und zum Verallgemeinern anregen soll. Er soll aber nicht als Vorbild genutzt werden, um über andere Beispiele, von denen wir nichts wissen, zu schlussfolgern.»

[30] Elizabeth Shanks Alexander argumentiert, dass die rabbinischen Gelehrten im שמע ישראל-Gebet sowie im morgendlichen Anlegen der תפילין (Gebetsriemen) eine Form von Talmud Tora sahen und die Frau in Anlehnung an das Entbundensein von Talmud Tora auch von diesen beiden Geboten befreiten (mBerachot 3,3; Alexander 2011, 541f. und 578f.; vgl. auch Hirshman 2009, 39; in jBerachot 1,2 3b heisst es: «Dieses [= das Rezitieren des Schema] wird als ein lautes Lernen angesehen und jenes [= das Torastudium] wird als lautes Lernen angesehen», und in bKidduschin 34a: «Die Tefillin gleichen dem Studium der Tora sowohl im ersten Abschnitt als auch im zweiten Abschnitt [...]»).

[31] In Deuteronomium 31,12, worauf sich der Jerusalemer Talmud (jSota 3,4/7, 19a) sowie auch das Sefer Hamizwot und das Sefer Hachinuch stützen, ist von Männern, Frauen, Kindern und Fremdling die Rede (vgl. Abschnitt «Die Frau und das Gebot von Talmud Tora».

[32] Auch in der von mir durchgesehenen zeitgenössischen Forschungsliteratur scheint diese Frage nicht diskutiert zu werden.

[33] Hilchot Talmud Tora 1,1; in manchen Manuskripten fehlen die Minderjährigen in dieser Aufzählung; vgl. auch Abschnitt «Die Frau und Talmud Tora in der Mischne Tora»; die Verpflichtung des Mannes zu Talmud Tora erläutert Maimonides in Hilchot Talmud Tora 1,8. In der Folge wird die Frau auch nicht zum Gebot, eine Torarolle zu schreiben, verpflichtet: «Diese Mizwa gilt überall und zu jeder Zeit für Männer, da sie zum Studium der Tora und auch zu ihrer Niederschrift verpflichtet sind, nicht aber die Frauen» (Sefer Hachinuch, Gebot 613; die deutsche Übersetzung basiert auf folgender Ausgabe: Sefer Hachinuch. Übersetzung ins Deutsche von Gabriel Strenger. Redaktionelle Bearbeitung von Raphael Pifko; 5 Bände. Zürich 2002).

[34] Ist der Mann zu einem Gebot verpflichtet und die Frau nicht, hält der Talmud die Nichtverpflichtung der Frau in der Regel unabhängig von der Definition des Gebots fest, so zum Bespiel für das Schma-Israel-Gebet, die Tefillin (u.a. mBerachot 3,3) oder die Zizit (u.a. bMenachot 43a).

[35] Das Vermitteln der praktischen Kenntnisse, die Frauen benötigten, um die für sie geltenden halachischen Regeln zu befolgen, war unumstritten. «Ein Mensch ist verpflichtet, seine Töchter die Gebote zu lehren, z. B. halachische Entscheidungen. (...) die Vorschriften der Gebote bringt man ihr bei. Wenn sie die Vorschriften für den Schabbat nicht kennt, wie soll sie dann den Schabbat halten?», heisst es dazu etwa im «Sefer Chasidim» (12./13. Jahrhundert; Abschnitt 313 [Bologna-Druck]; deutsche Übersetzung aus: Susanne Borchers: Jüdisches Frauenleben im Mittelalter. Die Texte des Sefer Chasidim. Frankfurt a. M. 1998; vgl. auch Hauptman 2010/[2012], 249f.). Allerdings wurde ihnen ausschliesslich beigebracht, was sie zu tun hatten, nicht aber darüber hinausgehende Erläuterungen oder Kompetenzen, die sie zum Lesen der rabbinischen Literatur oder zum Fällen von halachischen Entscheidungen befähigt hätten (Zolty 1993, 61; Bebe 2004, 388; Biale 1995, 34f.).

[36] Die Bedeutung von Talmud Tora wird in der rabbinischen Literatur an zahlreichen Stellen diskutiert und hervorgehoben; im Folgenden eine Auswahl an Beispielen: mAwot 2,7 und 6,4, bBerachot 64a, bKid. 40b, bSota 21a, jBerachot 1,2 3b, Derekh Eretz Zuta 9,4 und 9,20, Awot deRabbi Nathan 14,2 zu mAwot 2,8 (s. oben).

[37] Eine von Rabbi Elieser in mSota 3,4 überlieferte Aussage dazu (vgl. Abschnitt «Die Frau und das Gebot von Talmud Tora» unten) wurde allerdings als Verbot interpretiert, Frauen freien Zugang zu Talmud Tora zu gewähren; vgl. z. B. bKidduschin 29a; bKidduschin 34a–b; Sefer Hachinuch, Gebot 419 («Diese Mizwa gilt überall und zu jeder Zeit für Männer, aber nicht für Frauen [...]»); Henkin 2003, 12; Ellinson 1986, 240; Leibowitz 1992, 129; Biale 1995, 33; Sassoon 2011, 112.

[38] In Sifre zu Deuteronomium zum Beispiel wird Talmud Tora mit dem Tempeldienst verglichen: «Und um ihm zu dienen» [ולעבדו]. Das ist das Studium. (...) Und so wie der Altardienst Dienst genannt wird, so wird auch das Studium Dienst genannt» (Sifre zu Deuteronomium 11,13).

[39] Halbertal 1997, 1 und 6f.; Boyarin 2000, 88.

[40] bBerachot 7b gewichtet das Dienen gegenüber Gelehrten höher als das Studium selbst: «Wichtiger ist die Pflege der Tora [gemeint ist der Umgang mit den Lehrern] als das Studium derselben (...)».

[41] Boyarin 2000, 88; vgl. auch S. 92; das von Boyarin hier thematisierte Wissen der Frauen bezieht sich auf deren Körper und Sexualität (Boyarin 2000, 93f.). Isaac Sassoon versteht die besondere Stellung von Talmud Tora in der frühen rabbinischen Literatur auch als Ersatz für Militär und Politik, was ebenfalls dem Mann vorbehalten war (Sassoon 2011, 108f.).

[42] «Frauen, Sklaven und Minderjährige dürfen, auch wenn sie es wollen, sich nicht zum gemeinsamen Tischsegen vereinigen» (bBerachot 45b). – «‹Jeder ist zum gemeinsamen Tischsegen verpflichtet.› Was schliesst dies ein? Dies schliesst Frauen und Sklaven ein [...]» (bArachin 3a); weiterführende Literatur zum Zimmun für Frauen vgl. unter anderem Rochelle L. Millen: Social Attitudes Disguised as Halakhah: Zila Milta, Ein Havrutan Na'ah, Kevod Hatzibbur, in: Nashim 4/2001, 178–196, dort S. 183f.; Yonatan Gershon: On Women Joining in a Zimmun. Responses by Ya’akov Medan and Mikhal Tikochinsky, in: Meorot 9/2011, 26 Seiten (3. Oktober 2012).

[43] Boyarin 1993, 174; Walzer et al. 2000, 296; Halbertal 1997, 50f.; Broyde/Brody 2011, 46. Hayyim David Halevi (1924–1998), von 1972 bis zu seinem Tod sefardischer Oberrabbiner von Tel Aviv, beschrieb dieses Prinzip folgendermassen: «Deshalb war dies [die Kontinuität der in der Tora enthaltenen Gesetze] nur möglich, weil den Weisen Israels die Erlaubnis gegeben wurde, für jede Generation aufgrund von zeit- und ereignisbedingten Veränderungen halachische Neuerungen vorzunehmen» (Ase Lecha Raw, Band 7, Teil 54, Tel Aviv 1986, 234f. [hebr.], zitiert aus der Website Daf-Yomi.com , 3. Oktober 2012; Übersetzung: vr]); vgl. auch Walzer et al. 2000, 296. Für die kritische Durchsicht der von mir ins Deutsche übersetzten hebräischen Texte danke ich Regula Tanner, Lehrbeauftragte für Hebräisch am Zentrum für Jüdische Studien der Universität Basel, herzlich.

[44] mSota 3,4.

[45] Numeri 5,11–31; mSota 9,9 beschreibt die Abschaffung des Sota-Rituals: «Als die Ehebrecher sich mehrten, wurde das bittere Wasser abgeschafft, und zwar schaffte es Rabban Jochanan, der Sohn Sakkais, ab, denn es heisst (Hos. 4,14): ‹Ich ahnde es nicht mehr an euren Töchtern, wenn sie Unzucht treiben, und an euren Schwiegertöchtern, wenn sie die Ehe brechen, denn sie selbst› usw.»; vgl. auch tSota 14,2 sowie Boyarin 2000, 88. Dieses Beispiel gehört zu den in der rabbinischen Literatur selteneren Fällen, in welchen sich die Rabbinen über ein Tora-Gesetz hinwegsetzen (vgl. dazu auch Hauptman 1998, 194, Fussnote 22).

[46] mSota 3,4.

[47] mSota 3,4; vgl. auch Rabbi Eliesers Aussagen in bJoma 66b («Weisheit der Frau nur bei der Spindel») sowie in jSota 3,4/8 19a («Eher sollen die Worte der Tora verbrannt werden, als dass sie Frauen übergeben werden!»); Rabbi Elieser plädiert auch im Zusammenhang mit der von einem Nichtjuden geschriebenen Torarolle für deren Verbrennung, während ein anderer Gelehrter vorschlägt, die Rolle zu vergraben und ein dritter, sie zu verwenden (bGittin 45b). Simon Schlesinger weist in seiner Mischna-Übersetzung darauf hin, dass das Wort «als» (כאלו) im Mischnatext des Babylonischen und Jerusalemer Talmuds fehlt, jedoch in der Gemara des Babylonischen Talmuds (bSota 21b) enthalten ist (Mischnajot 1968, Band 2, 319; vgl. auch Berman 1973, 14 und 26). Schlesinger übersetzt תפלות mit «Ausgelassenheit» (Mischnajot 1968, Band 2, 319), Lazarus Goldschmidt mit «Ausschweifung (Der Babylonische Talmud 1929f., Band 6 [1932], 73); in englischen Übersetzungen werden u. a. die Begriffe licentiousness, lasciviousness, lechery, lewdness, trivia, nonsense oder licentiousness verwendet. תפלות kann aber – ebenso wie der Begriff תפלה (vgl. z. B. Jer. 23,13) – auch mit «Nichtigkeit» oder «Unsinn» übersetzt werden; die Wortwurzel תפל bedeutet «salzlos», «ohne Geschmack» (Ilan 2006[b], 81f.; vgl. auch Ellinson 1986, 248). Tal Ilan vertritt mit Blick auf die Verwendung des Begriffs in Tenach und rabbinischer Literatur die Meinung, dass תפלות in mSota 3,4 «Unsinn» bedeute und dass Übersetzungen, die תפלות in mSota 3,4 in einen sexuellen Kontext stellten, von Raschis sexualisierender Auslegung des Begriffs beeinflusst seien (Ilan 2004, 28f.; Ilan 2006[b], 81f.); Raschi wiederum stützte sich dabei möglicherweise, so Ilan, auf den sexuellen Kontext in bMegilla 12b (Ilan 2006[b], 85). Die Gemara zu mSota 3,4 erklärt, dass nicht das Torastudium Ausgelassenheit sei, sondern wenn ein Vater seine Tochter die Tora unterrichte, sei es, als ob er sie Ausgelassenheit lehren würde (bSota21b; vgl. auch Ellinson 1986, 249).

[48] Die Widersprüchlichkeit der beiden Aussagen spiegelt sich auch in der Widersprüchlichkeit des diesen beiden Figuren zugeschriebenen Privatlebens: Der unverheiratete Ben Asai widmet sein Leben ausschliesslich dem Tora-Studium (und muss sich weder vor einer ihn betrügenden Frau fürchten noch eine Tochter unterrichten), während Elieser mit Imma Schalom verheiratet ist, einer der wenigen gelehrten Frauen, über die in der rabbinischen Literatur namentlich berichtet wird (tJewamot 8,7 [Ausgabe Neusner 2002]; bEruwim 63a, bBaba Metzia 59b u. a.

[49] mSota 3,4; «Kab» ist eine Massangabe.

[50] Ilan 2004, 34f.; Ilan 2006[b], 74–97.

[51] «Lieber ist einer Frau nur ein Kab und Ausgelassenheit [תפלות] als neun Kab und Enthaltsamkeit [פרישות]» (mSota 3,4).

[52] mSota 3,4.

[53] Jacob Neusner verwendet in seiner Übersetzung ins Englische für alle drei Begriffe dasselbe Wort (abstinence, abstemious woman, abstainers); er stützt sich dabei allerdings nicht auf die Bedeutung der Wortwurzel פרש («sich absondern»; Ilan übersetzt mit «Trennung» bzw. «separation»), sondern auf den von Raschi geprägten sexuellen Kontext des Begriffes (Ilan 2004, 30; Ilan 2006[b], 79).

[54] Gemeint sind die drei in mSota 3,4 verwendeten Begriffe פרושה ,פרישות und פרושים (vgl. dazu die englische Formulierung in Ilan 2006[b], 95: «The idea that all three forms deriving from the root פרש actually do refer to the Pharisees should not be totally ruled out»).

[55] Ilan 2004, 34.

[56] Eine Parallele dazu findet sich in der Argumentation der Rabbiner des 19. und 20. Jahrhunderts: Die Stärkung der jüdischen Identität der Frau durch Talmud Tora sollte verhindern, dass sie sich an säkularen oder liberalen Werten orientiert (vgl. Abschnitt «Paradigmenwechsel: Die Frau und Talmud Tora seit der Haskala»; vgl. insbesondere auch Benzion Fuerers Argumentation (zitiert in Fussnote 193).

[57] mSota 3,5.

[58] Ilan 2004, 36; alle drei gehören der zweiten tannaitischen Generation an, Erstere waren aber älter (Stemberger 2011, 84f.).

[59] Diese Frage stellt sich auch ganz allgemein in Bezug auf die von der Mischna skizzierte Möglichkeit einer aufschiebenden Wirkung des Bitterwassers.

[60] Vgl. u. a. mAwot 2,16: «Hast du viel Tora gelernt, gibt man dir grossen Lohn (...); bZewachim 45a: «Demnach braucht ja auch die ganze [Lehre von der] Schlachtung der Opfer nicht gelehrt zu werden, denn sie ist eine Lehre für die messianische Zeit!? Vielmehr forsche man, um Belohnung zu erhalten, ebenso auch hierbei: man forsche, um Belohnung zu erhalten»; bKidduschin 30b: «Meine Kinder, ich habe den bösen Trieb erschaffen, und ich habe die Tora als Mittel gegen ihn erschaffen; wenn ihr euch mit der Tora befasst, so werdet ihr nicht in seine Hand ausgeliefert»; generell wertet der Talmud das Erfüllen eines Gebotes, zu dem eine Person verpflichtet ist, höher als das freiwillige Ausüben eines Gebotes, zu der eine Person nicht verpflichtet (bKidduschin 31a; bBaba Kama 38a).

[61] Isaac Sassoon zeigt in diesem Zusammenhang auf, dass die Tora der Frau das Studieren nicht verbietet: «There is no way a rabbi [gemeint ist Ben Asai; vr] can tell a father he is under obligation (hayyab) to teach his daughter if he believes the Torah to have said the opposite» (Sassoon 2011, 112).

[62] Diese Haltung vertritt u. a. Judith Hauptman: Ben Asai «also claims that women, for this immoral and profoundly demeaning way of treating them, must be compensated with Torah study» (Hauptman 1998, 23); unwahrscheinlich ist, dass es Ben Asai hier ausschliesslich darum geht, Frauen beizubringen, dass sie nicht fremdgehen dürfen, da das praxisbezogene Lernen von Geboten für die Frau in der rabbinischen Literatur nicht als umstritten gilt.

[63] jSota 3,4/7 18d–19a.

[64] Es handelt sich dabei um das Gebot von הקהל. Auch die Lesung aus der Tora am Schabbat, am Montag- und Donnerstagmorgen sowie an Feiertagen im Rahmen des Gottesdienstes ist eine Form von Talmud Tora. Zur Rolle der Frau in der Lesung aus der Tora vgl. Trachtman, Chaim (Hg.): Women and Men in Communal Prayer. Halakhic Perspectives. Jersey City (NJ) 2010.

[65] Die Gemara nennt ihn im Abschnitt jSota 3,4/7 19a zweimal Rabbi Le’asar ben Asarja und am Schluss einmal Rabbi El’asar ben Asarja; Sassoon macht darauf aufmerksam, dass der Name Le’asar im damaligen Palästina häufig verkürzt wurde (in der hebräischen Schreibweise fehlt bei «El’asar» am Wortanfang das «א»; Sassoon 2011, 111); Boyarin verwendet in seiner englischen Übersetzung dreimal den Namen El’asar ben Asaria (Boyarin 1993, 172f.).

[66] jSota 3,4/7 19a; ähnlich verhält es sich mit der Auslegung von Exodus 19,3 («Da rief der Ewige ihm [Moses] vom Berg zu und sprach: ‹So sollst du sprechen zum Haus Jakob und kundtun den Kindern Israel [...]›»): Der Midrasch Schemot Rabba versteht unter dem Haus Jakobs die Frauen und unter den Kindern Israels die Männer und erklärt, Moses sollte den Frauen «die hauptsächlichsten Dinge» und den Männern «die feinen (subtilen) Dinge» sagen (Midrasch Schemot Rabba zu Exodus 19,3; die deutsche Übersetzung basiert auf der Ausgabe von August Wünsche [Der Midrasch Schemot Rabba. Die haggadische Auslegung des zweiten Buches Moses. Zum ersten Male ins Deutsche übertragen. Leipzig 1882]; vgl. auch Mechilta de Rabbi Jischmael und Raschi zu Exodus 19,3 sowie Abschnitt «Sarah Schenirers ‹Beit Ja‘akow›-Schulen» unten). Auf die in Schemot Rabba aufgeworfene Frage, weshalb hier zuerst die Frauen genannt werden, lautet eine der Antworten jedoch: «(...) weil sie ihre Kinder zur Tora leiten.» Rabbi Jochanan habe, so der Midrasch Schemot Rabba weiter, den Begriff «Haus Jakobs» als Sanhedrin (oberster Gerichtshof) verstanden.

[67] Ilan 2006[a], 634.

[68] Vgl. u. a. bBaba Metzia 59b; Henkin 2003, 12; Ellinson 1986, 249.

[69] jSota 3,4/7 18d–19a; vgl. oben.

[70] Boyarin 1993, 172f.; die Gemara des Babylonischen Talmuds zu Sota 3,4 ignoriert insbesondere Ben Asais Aussage vollständig (Boyarin 1993, 174; vgl. bSota 21a–b). Boyarin liest dies als Bedrohung, welche Tora studierende Frauen für die Gelehrten darstellten (Boyarin 1993, 170f.).

[71] bSota 21a; vgl. bBerachot 17a: «Raw sprach zu Rabbi Chija: Wodurch machen Frauen sich verdienstlich? – Dass sie ihre Kinder im Bethaus unterrichten lassen, ihre Männer im Lehrhaus (der Rabbanan) lernen lassen und auf ihre Männer warten, bis sie aus dem Lehrhaus heimkehren»; vgl. auch bBaba Kama 38a: «(...) dies lehrt dich, dass selbst ein Nichtjude, der sich mit der Tora befasst, dem Hohepriester gleiche. – Ich will dir sagen, sie erhalten keine Belohnung wie der, dem es geboten ist und es hält, sondern wie der, dem es nicht geboten ist und es hält. Rabbi Chanina sagte nämlich: Bedeutender ist der, dem es geboten ist und es hält, als der, dem es nicht geboten ist und es hält.»

[72] Sassoon 2011, 107.

[73] tBerachot 2,12.

[74] jBerachot 3,4 6c; bBerachot 22a.

[75] mNedarim 4,3; weil das Wort «Töchter» nicht in allen Manuskripten steht, ist diese Aussage umstritten; Yehuda Henkin weist darauf hin, dass in den Tosafot (12./13. Jahrhundert) sowie von Asher ben Jehiel («Rosch»; ca. 1250–1327) die Meinung vertreten wird, dass hier von Söhnen und Töchtern die Rede sei (Henkin 2003, 9).

[76] bSanhedrin 94b; vgl. auch Sefer Chasidim, Abschnitt 313 (Bologna-Druck); König Hiskija herrschte 727 bis 698 v. Chr. (Encyclopaedia Judaica 2007, Band 9, 87f.; Silver 1978, 79; vgl. auch Nechemia 8,2f.). In manchen Manuskripten des ausserkanonischen Traktats Derech Eretz Zutta wird im Vers 9,20 von studierenden Töchtern berichtet («Wenn du herbeieilst, um den Armen zu helfen, wirst du Söhne und Töchter haben, die sich mit Tora beschäftigen»; vgl. z. B. Loopik 1991, 307), während in anderen Manuskripten nur von sich mit Tora beschäftigenden Söhnen die Rede ist (vgl. z. B. Tawrogi 1885, 48).

[77] Awot deRabbi Nathan 14,2 zu mAwot 2,8; הבריות kann auch übersetzt werden mit «Geschöpfe».

[78] «Dies sind die Dinge, deren Früchte der Mensch im diesseits geniesst, deren Stamm aber für die kommende Welt erhalten bleibt (...).»

[79] In der Parallelstelle in mPea 1,1 wird diese Aussage nicht אדם/dem Menschen zugeordnet; zum Begriff אדם in Tosefta und Mischna vgl. Ilan 2010, 70f.

[80] Vgl. z. B. Hilchot Talmud Tora 1,13.

[81] bKidduschin 29a–b; Sarah 1998, 97; vgl. auch Biale 1995, 33; am Beispiel der biblischen Chana und ihrem Widerstand gegenüber dem Priester Eli zeigt Susanne Plietzsch auf, dass es für Frauen auch von Vorteil sein konnte, «ausserhalb des männlichen Systems des (...) Lehrens und Lernens» zu stehen (Plietzsch 2006, 10).

[82] Zur Rolle der Frau im Tempel vgl. Chana Safrai: Women and Temple. The Status and Role of Women in the Second Temple of Jerusalem. Amsterdam 1991.

[83] Wegner 1988, 3.

[84] Henkin 2003, 12.

[85] Hauptman 1998, 23; vgl. auch Ilan 2001[a], 191f.; demgegenüber vertritt Ilan die Meinung, dass im Gespräch zwischen Rabbi Elieser und Rabbi Jehoschua Sexualität nicht thematisiert werde (Ilan 2004, 36).

[86] Hauptman 1998, 23f.; vgl. auch Klapheck 1999, 172, und Zolty 1993, 79; dasselbe Prinzip liegt auch der häufig zitierten talmudischen Aussage zugrunde, wonach Frauen «leichtsinnig» seien (דעתן קלות; bKidduschin 80b): Mit Leichtsinn ist in der Regel sexuelles Verhalten und nicht der Intellekt gemeint. «‹The minds of women are light› was never used in the Talmud in reference either to intellectual abilities, or to moral character» (Zolty 1993, 78; vgl. auch Ellinson 1986, 254). In der Gemara finden sich auch Meinungen, wonach die intellektuellen Fähigkeiten der Frauen grösser seien als jene der Männer: «Es heisst: ‹und der Ewige, Gott, baute die Rippe (...)› [Genesis 2,22], dies lehrt, dass der Heilige (...) der Frau mehr Verstand gegeben hat als dem Mann» (bNidda 45b); aus diesem Grund sind Gelübde von Frauen ab dem Alter von 12 und Gelübde von Männern erst ab dem Alter von 13 gültig (mNidda 5,6; vgl. auch Klapheck 1999, 177; Ellinson 1986, 254f.).

[87] Explizit erwähnt wird dies beispielsweise im Sefer Chasidim: «Aber es darf nicht ein junger Mann die Töchter unterrichten, auch wenn der Vater dabeisteht und aufpasst, damit er nicht (mit ihr) allein ist; es darf nicht sein, damit nicht sein Trieb [für sie (erwacht) oder ihr Trieb für ihn]. Denn die Stimme einer Frau ist Blösse [bBerachot 24a]» (Abschnitt 313 [Bologna-Druck]); vgl. auch Hauptman 1998, 30f.

[88] Hauptman 2010/[2012], 256.

[89] Dabei handelt es sich um die Magd von Rabbi (Jehuda haNasi), von deren Torakenntnissen die Gemara mehrfach berichtet (Hauptman 2010/[2012], 288).

[90] Die mit den 20 Frauen verwandten insgesamt 9 Gelehrten (ohne Rabbi und dessen Magd gerechnet) werden namentlich erwähnt; die mit Namen genannte Frau heisst Judith, ihr Mann heisst Rabbi Chija.

[91] Gestützt auf die Forschungen von Catherine Hezser und Jeffrey L. Rubenstein weist Hauptman auf das in rabbinischen Kreisen auch ausserhalb des eigentlichen Lehrhauses praktizierte Lernen hin (Hauptman 2010/[2012], 250f.).

[92] Eine Ausnahme bildet Rabbis Magd.

[93] Hauptman 2010/[2012], 252.

[94] Hauptman 2010/[2012], 255; die Erzählungen über diese Frauen lassen allerdings ebenso viel oder wenig repräsentative Aussagen über die damalige jüdische Gesellschaft zu wie der Talmud selbst, der nur Einblicke in die rabbinisch gelehrten Kreise ermöglicht (Hauptman 2010/[2012], 292).

[95] bKetuwot 85a; Hauptman 2010/[2012], 282f.

[96] mKetuwot 2,5.

[97] Für den Kohen (Priester bzw. priesterlicher Nachfahre des biblischen Aarons) gelten in verschiedenen Lebensbereichen spezielle Regeln; u. a. darf er keine Frau heiraten, die geschiedenen ist oder die Opfer einer Vergewaltigung wurde (Encyclopaedia Judaica 2007, Band 16, 521).

[98] bKetuwot 23a.

[99] mKetuwot 2,5; Hauptman 2010/[2012], 284f.

[100] Hauptman 2010/[2012], 286.

[101] Es braucht weitere Forschung, um festzustellen, in welcher Zeit jüdische Frauen Zugang zu Talmud Tora hatten, wie viel Zugang sie hatten und wie sich dieser Zugang gestaltete.

[102] Brooten 1982, 5f., 35f., 41f., 57f.

[103] Brooten 1981, 283; vgl. auch Brooten 1982, 87 (Bezug nehmend auf De vita contemplativa 28; zu Philon von Alexandrien und Frauen vgl. Dorothy Sly: Philo’s Perception of Women. Atlanta [GA] 1990).

[104] Brooten 2000, 223.

[105] Midrasch Bereschit Rabba 39 zu Genesis 12,5; die deutsche Übersetzung basiert auf der Ausgabe von August Wünsche (Der Midrasch Bereschit Rabba. Die haggadische Auslegung der Genesis. Zum ersten Male ins Deutsche übertragen. Leipzig 1881); vgl. auch Stemberger 2011, 309f., und Zolty 1993, 69; der Midrasch Bereschit Rabba spricht hier von «Awraham» und «Sara», Genesis 12,5 von «Awram» und «Sarai».

[106] Midrasch Schemot Rabba zu Exodus 1,1 bzw. zu Genesis 21,10–12.

[107] Numeri 27,1f.

[108] bBaba Batra 119b.

[109] Ilan 2001[a], 178; Bebe 2004, 46.

[110] tKelim Baba Metzia 1,6; die in der Tosefta überlieferte Rechtssprechung Berurias ist in der Mischna zwar enthalten (mKelim 11,4), wird aber nicht Beruria zugeordnet; Tal Ilan sieht darin eine Bekräftigung des auf Männer beschränkten Privilegs des Studierens: «When the editors of the Mishnah had to decide what to do with Beruriah’s ruling, they decided it was too valuable to lose, but at the same time the finished product of the editorial activity – the Mishnah – was designed to uphold the ideal world of learning, in which women had no place. Beruriah was, therefore, edited out» (Ilan 2001[a], 180).

[111] bPessachim 62b.

[112] Midrasch Mischle zu 31,10; Sarah 1998, 94; der Midrasch zu Mischle lässt sich nicht klar datieren; es wird vermutet, dass er aus dem 9. oder spätestens 10. Jahrhundert stammt (Stemberger 2011, 361f.; Encyclopaedia Judaica 2007, Band 14, 190).

[113] Bemerkenswert ist auch, dass Berurias Wissen einen Widerspruch zu Rabbi Eliesers Haltung gegenüber Frau und Talmud Tora darstellt und die Amoräer Berurias Gelehrsamkeit nicht in Frage stellen.

[114] Midrasch Mischle zu 31,10; Sarah 1998, 94; vgl. auch bBerachot 17a; als bekanntestes Vorbild für diese Rolle gilt Rabbi Akiwas Frau Rachel (bKetuwot 62b–63a; vgl. auch Plietzsch 2011, 6f.).

[115] Raschi bezieht sich dabei auf bKidduschin 80b (דעתן קלות).

[116] Raschi zu bAwoda Zara 18b, vgl. Ilan 2001[a], 189; Beruria habe sich, so Raschi, über die in bKidduschin 80b überlieferte Meinung der Gelehrten, Frauen seien «leichtsinnig», lustig gemacht. Tal Ilan vertritt die Meinung, dass sich Raschi auf eine Erzählung aus bKidduschin 81a gestützt haben könnte – Rabbi Meir lässt sich darin von einem als Frau verkleideten Satan täuschen, doch seine Gelehrsamkeit schützt ihn –, während Judith Hauptman die Frage aufwirft, ob eine Erzählung in jKetuwot 2,6/2 26c, in der die beiden gelehrten Töchter Schmuels jung sterben, als Vorbild gedient habe (Ilan 2001[a], 191f.; Hauptman 2010/[2012], 285f.). Beide Erzählungen suggerieren, dass die schützende Wirkung von Talmud Tora auf den Mann beschränkt ist und die Frau daran keinen Anteil hat. Keiner von Raschis Zeitgenossen stützte sich in der Argumentation gegen den Zugang von Frauen zu Talmud Tora auf diese Erzählung Raschis (Grossman 2004, 157).

[117] Walzer et al. 2003, 180; Furstenberg 2000; Silver 1978, 77.

[118] Kehat 2004, 212f.; der Name der Institution, Michlelet Beruria, wurde 1986 in Midreshet Lindenbaum umgewandelt (Furstenberg 2000).

[119] Hilchot Talmud Tora 1,13; vgl. übernächstes Zitat unten.

[120] Harvey 1981, 123; Sassoon 2011, 101; Grossman 2004, 156.

[121] Zeitgenössische Studien zeigen auf, dass Anleitung und Unterstützung durch Fachpersonen wichtige Grundpfeiler eines Lernprozesses sind. Autodidaktisches Lernen ist grundsätzlich möglich, grenzt den Kreis der Menschen, die sich auf diese Weise Wissen und Kompetenzen aneignen können, aber ganz wesentlich ein (zu selbständigem und angeleitendem Lernen von Kindern vgl. z. B. Erwin Beck; Titus Guldimann; Michael Zutavern: Eigenständig lernende Schülerinnen und Schüler, in: Dies. [Hg.]: Eigenständig lernen. St. Gallen 1995, 15–58, dort S. 16f.). Isaac Sassoon interpretiert eine Aussage Rabbi Eliesers in bJoma 66b als Ablehnung gegenüber dem Selbststudium der Frau; durch das explizite Zulassen des Selbststudiums distanziere sich Maimonides hier von Rabbi Elieser (Sassoon 2011, 201).

[122] Hilchot Talmud Tora 1,13; Maimonides nimmt im letzten Satz Bezug auf bKidduschin 31a bzw. bBaba Kama 38a; Zitate aus der Mischne Tora basieren auf folgenden Ausgaben und Übersetzungen: Mischne Tora des Rambam. Sefer Hamada mit Übersetzung und Anmerkungen von Eli Israel Bloch. Basel 2012; Mishneh Torah. A New Translation with Commentary and Notes. Band 2: Hilchot De’ot by Za’ev Abramson and Eliyahu Touger; Hilchot Talmud Torah by Eliyahu Touger. New York 1989.

[123] Zolty 1993, 58; Henkin 2003, 5; Silver 1978, 77f.; Berman 1973, 14.

[124] Hilchot Talmud Tora 1,13; vgl. auch Sefer Chasidim, Abschnitt 313 (Bologna-Druck); Maimonides erwähnt explizit nur die mündliche Lehre 016, die Frauen nicht studieren sollen. Arthur M. Silver vertritt die These, dass Maimonides damit nur die Mischna und nicht die gesamte rabbinische Literatur meinte. Zwar könne, so Silver, wer keine Mischna-Kenntnisse habe, nicht Talmud lernen. «However, (...) if a woman was able to teach herself or happened to be taught Bible and Mishnah, she may then also be taught Talmud» (Silver 1978 , 78).

[125] Grossman 2004, 161.

[126] Hilchot Talmud Tora 1,13.

[127] Das «sie» (הן im vorangehenden Satz) bezieht sich auf den Begriff «Brot und Fleisch» (ובשר לחם) im Gegensatz zu פרדס; Maimonides stellt damit das Studium der Tora – Bezug nehmend auf Metaphern für das Studium in Sprüche 9,5 («Kommt, esst von meinem Brot») und bEruwin 21b («[...] wer [die Tora] studiert, fühlt dabei einen Fleischgeschmack») – dem Studium der Metaphysik – Bezug nehmend auf bChagiga 14b («Vier traten in das Paradies ein (...)»; von Lazarus Goldschmidt u. a. als Metapher für «metaphysische Studien» interpretiert) – gegenüber (Mishneh Torah/Touger 1989, 204f.; Der Babylonische Talmud 1929f., Band 4 [1931], 283); Arthur Silver, Moshe Weinberger u. a. weisen darauf hin, dass sich Maimonides hier auf das Talmudlernen beziehe (Silver 1978, 82f.; Weinberger 1985, 26).

[128] Hilchot Jesodei haTora 4,13.

[129] Harvey 1981, 123; vgl. auch Sassoon 2011, 102.

[130] Zu den wenigen rabbinischen Gelehrten, die eine andere Haltung vertraten, gehörte Samuel Archivolti (1515–1611): Er war der Meinung, dass das Gebot von Talmud Tora grundsätzlich auch für die Frau galt (Grossman 2004, 162); für einen Überblick zu Talmud Tora für Frauen in der rabbinischen Literatur zwischen 12. und Ende 19. Jahrhundert vgl. Zolty 1993, 57–65, Ellinson 1986, 255–260, und Grossman 2004, 160–173.

[131] Kizzur Schulchan Aruch, Kapitel 27, § 2 (deutsche Übersetzung aus: Schelomo Ganzfried: Kizzur Schulchan Aruch. Mit Punktation versehen, ins Deutsche übertragen von Selig Bamberger. Basel 1969); bei Geboten, die auch für die Frau gelten, spricht der Autor Schlomo Ganzfried (1804–1886) von כל אדם (jeder); vgl. z. B. «Die Vorschriften für die Mildtätigkeit», Kapitel 34, § 2.

[132] Meyer Kayserling bezeichnet sie als «rabbinische Frauen» oder als «rabbinisch gelehrte Frauen»; die von ihm genannten Quellen reichen bis ins 11. Jahrhundert zurück (Kayserling 1991, 134f.).

[133] Zolty 1993, 178f.; Grossman 2004, 107f. und 131.

[134] Grossman 2004, 131, Judith R. Baskin in der Encyclopaedia Judaica 2007, Band 17, 106; Zolty 1993, 179.

[135] Zolty 1993, 184; weder Grossman noch Baskin oder Zolty machen nähere Angaben zu den in diesen Responsen behandelten Themen. Die in Klammern genannten alternativen Namen rabbinischer Gelehrter sind entweder gebräuchliche Abkürzungen oder Titel eines ihrer Hauptwerke. Im Mittelalter gab es auch Frauen, die halachisch nur für Männer verpflichtende Gebote erfüllten (Grossman 2004, 174f.).

[136] Kayserling 1991, 177.

[137] Kayserling 1991, 177f.; Zolty 1993, 194f.; Bin-Nun et al. 2009, 4f.; Posek: rabbinische Autorität, die halachische Entscheidungen trifft; das mit einem Segensspruch verbundene Gebot, am Vorabend von Schabbat und Feiertagen zwei Kerzen anzuzünden, ist traditionell eine Aufgabe der Frau.

[138] Zolty 1993, 195.

[139] Levine Melammed 1997, 21f.

[140] Levine Melammed 1997, 24f.

[141] Levine Melammed 1997, 27.

[142] Levine Melammed 1997, 32f.

[143] Levine Melammed 1997, 34; Levine Melammed geht zudem davon aus, dass die Eltern der Schüler nichts gegen eine weibliche Lehrperson einzuwenden hatten, «since if they had, they could have taken their children to another school» (Levine Melammed 1997, 31).

[144] Grossman 2004, 163; Bin-Nun et al. 2009, 5; Zolty 1993, 140f.; Encyclopaedia Judaica 2007, Band 3, 138.

[145] Zolty 1993, 142f.; Levine Melammed 2009.

[146] Zolty 1993, 140; Levine Melammed 2011.

[147] Zolty 1993, 142f.

[148] Allerdings gab es damals auch für die Männer wenig Entscheidungsspielraum, insbesondere wenn sie in eine Gelehrtenfamilie hineingeboren und mit der Erwartung konfrontiert wurden, die Familientradition fortzusetzen (Parush 2004, 57f.).

[149] Dazu gehörten beispielsweise Miriam Spira-Luria (15. Jahrhundert), Rivka bat Meir Tiktiner, die Schwestern Fioretta Batschewa Modena und Diana Rieti von Mantova (alle 16. Jahrhundert), Eva Bacharach (ca. 1580–1651), Lea Horowitz (Sara Rebekka Rachel Lea; 18. Jahrhundert), Grace Aguilar (1816–1847), Fanny Neuda (1819–1894), Rivka Hina oder Rajna Batja Berlin (beide 19. Jahrhundert); für weiterführende Literatur vgl. u. a. Judith R. Baskin: Midrashic Women. Formations of the Feminine in Rabbinic Literature. Hanover (NH) 2002; Chava Weissler: Voices of the Matriarchs. Listening to the Prayers of Early Modern Jewish Women. Boston (MA) 1998; Abrahams 1896, 342f.; Kayserling 1991, 134f. und 175f.; Zolty 1993, 178f.; Grossman 2004, 162f.; Frauke von Rohden (Hg.): Meneket Rivkah: A Manual of Wisdom and Piety for Jewish Women by Rivkah bat Meir. Philadelphia (PA) 2008; Mayer I. Gruber (Hg.): The Women of Israel by Grace Aguilar. Piscataway (NJ) 2011; Dinah Berland (Hg.): Hours of Devotion. Fanny Neuda's Book of Prayers for Jewish Women. New York 2007; Eliyana R. Adler: Reading Rayna Batya: the Rebellious Rebbetzin as Self-Reflection, in: Nashim 16, 2008, 130–152; zu Rivka Hina vgl. Fussnote 244.

[150] Thesing 2011, 47f.; Gerhard 2009, 8 und 14f.

[151] Gerhard 2009, 20f. und 39f.

[152] Gerhard 2009, 39.

[153] Eliav 2001, 352f.; Hyman 1995, 58f.; Zolty 1993, 234f.

[154] Eliav 2001, 91 und 353.

[155] Dies traf sowohl auf die Schulen für Jungen als auf jene für Mädchen zu. Im Vergleich zu Ersteren erhielten Mädchen jedoch weniger Unterricht in jüdischen Fächern (Eliav 2001, 359; Cohen 2008, 13; Zolty 1993, 236). Darauf weist auch Tova Cohen hin: «If there were maskilim who (albeit infrequently) described an educated heroine as an ideal (...) or even founded schools for girls, they nevertheless did not depart significantly from the traditional Jewish women-excluding world in which they had grown up» (Cohen 2008, 10).

[156] Eliav 2001, 359; die Mädchenschulen der Maskilim wurden in den Anfängen vorwiegend von mittellosen Familien genutzt; vermögendere Familien liessen ihre Töchter schon seit dem 17. Jahrhundert zu Hause durch Privatlehrer unterrichten (Eliav 2001, 351f.; Hyman 1995, 58).

[157] Breuer 1986, 116f.; Zolty 1993, 246; der Begriff der jüdischen Orthodoxie ist zur Zeit der Haskala entstanden: Ab dem frühen 19. Jahrhundert wurde er als Abgrenzung zur Reformbewegung verwendet (Encyclopaedia Judaica 2007, Band 15, 493).

[158] Selbst wenn in orthodoxen Familien aufgewachsene Frauen zu Hause eine jüdische Erziehung erhalten hatten, trug die säkulare Schulbildung häufig dazu bei, die jüdischen Werte kritisch zu hinterfragen (Weissman 1976, 141).

[159] Eliav 2001, 295f.; Tasch 2011, 163.

[160] Siddur Tefillot Jisrael 1895, 122; vgl. auch Ellinson 1986, 262f., und Zolty 1993, 91; das Zitat stammt aus dem Kommentar zum zweiten Abschnitt des ישראל שמע-Gebets (ולמדתם אותם [...], Deuteronomium 11,19) im von Hirsch ins Deutsche übersetzten und kommentierten Gebetbuch «Siddur Tefillot Jisrael/Israels Gebete», welches 1895, wenige Jahre nach seinem Tod, erschienen ist.

[161] Zolty 1993, 237f.; Getsel Ellinson sieht Hirschs Beweggründe jedoch nicht primär im Zusammenhang mit den Veränderungen seiner Zeit: «According to Rabbi Hirsch the situation has not really changed. Accordingly, Torah education for girls was necessary in principle, seeing that in some measure it has always been available to girls» (Ellinson 1986, 264).

[162] Hirsch 1992, 426f. und 567f.

[163] Dazu gehörte insbesondere die als «Frauenbibel» bekannt gewordene «Zenne Renne» (צאנה וראינה, dem Hohelied 3,11 entnommen) aus dem frühen 17. Jahrhundert; zu jiddischen Bibelbearbeitungen für Frauen vgl. Valérie Rhein: Jiddische Literatur für die jüdische Frau. Handschriften und Drucke aus dem späten Mittelalter und dem 16., 17. und frühen 18. Jahrhundert. Eine Übersicht. Lizentiatsarbeit, Basel 1992 (unveröffentlicht).

[164] Eliav 2001, 360.

[165] Hirsch 1906, 460; zum Begriff «Mütter des Hauses Jakob» vgl. Fussnote 178.

[166] Im Eröffnungsjahr besuchten 55 Jungen und 29 Mädchen die Schule, 1958 waren es 156 Jungen und 103 Mädchen. In den Anfängen besuchten die jüngsten Schülerinnen und Schüler einen koedukativen Unterricht (Tasch 2011, 241; Eliav 2001, 296f.).

[167] Parallel zum erweiterten Bibelunterricht für Mädchen habe, so der Historiker Mordechai Breuer (1918–2007), «der Talmudunterricht der Knaben erheblich an Intensität» eingebüsst (Breuer 1986, 118).

[168] Zolty 1993, 238.

[169] Seit den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts hatte es in Osteuropa einzelne Versuche der Maskilim gegeben, jüdische Schulen für Mädchen einzurichten (Zolty 1993, 239). Iris Parush beurteilt die traditionelle Erziehung der Knaben im Cheder, wo wie in den Jeschiwot eine ausschliesslich jüdische Bildung vermittelt wurde, nicht nur als ein Privileg. Insbesondere der Lernalltag sei häufig von Druck und Demütigung geprägt gewesen (Parush 2004, 63f.). Demgegenüber sei der Ausschluss der Mädchen von einer institutionalisierten jüdischen Bildung für manche eine Chance gewesen, beispielsweise wenn sie zu Hause von Privatlehrern unterrichtet und dabei häufig mit einem breiteren Wissen konfrontiert wurden als ihre Brüder (Parush 2004, 38f.).

[170] Zolty 1993, 230; Hyman 1995, 54; Silver 1978, 79.

[171] Hyman 1995, 50 und 60; Rakovsky 2002, 26f.; unter anderem haben sich jüdische Frauen im Osteuropa des 20. Jahrhunderts in der feministischen Bewegung engagiert (Weissman 1976, 141), andere, darunter Puah Rakovsky (vgl. Fussnote 175), waren in der zionistischen Bewegung aktiv.

[172] Israel Meir Hakohen Kagan, Likutei Halachot, Sota 21, zitiert aus Ellinson 1975, 158. Der Begriff מצווה steht einerseits für «religiöse Pflicht» (Gebot) und andererseits für eine «gute Tat». In der englischsprachigen Literatur wird beim Zitieren dieses Textes Kagans der Begriff מצווה in der Regel nicht übersetzt (vgl. beispielsweise Walzer et al. 2003, 190; Silver 1978, 80; Weissman 1976, 142); zu den Ausnahmen gehört Shoshana Pantel Zolty, die מצווה רבה mit «it is required» übersetzt (Zolty 1993, 67; vgl. aber auch S. 74).

[173] mSota 3,4.

[174] Israel Meir Hakohen Kagan, Likutei Halachot, Sota 21 (hebr.), zitiert aus Ellinson 1975, 158 (Übersetzung: vr).

[175] Israel Meir Hakohen Kagan, Likutei Halachot, Sota 21; die polnische Pädagogin und Zionistin Puah Rakovsky (1865–1955) beklagte in ihren Memoiren die Assimilation als direkte Folge einer fehlenden jüdischen Bildung für Frauen: «Unfortunately, Jewish parents, even intelligent ones, felt that girls should not have the same education as boys – never mind the idea of a girl wanting to learn the Holy Tongue! That was certainly considered to be heresy, because ‹teaching a girl Torah is teaching her licentiousness.› Our nation has paid dearly for that outmoded view» (Übersetzung aus dem Jiddischen [von Barbara Harshav]; zitiert aus Rakovsky 2002, 25; vgl. auch Hyman 1995, 57f.).

[176] Halpern/Safrai 1998, 5.

[177] Zolty 1993, 275f.; Weissman 1976, 141.

[178] Der Name «Beit Ja‘akow» nimmt Bezug auf den biblischen Vers Exodus19,3. Das darin erwähnte Haus Jakobs (בית יעקב) verstanden die Midraschim Mechilta de Rabbi Jischmael und Schemot Rabba sowie der Bibelkommentator Raschi als Begriff für die Frauen des Volks Israel (Mechilta de Rabbi Jischmael, Schemot Rabba und Raschi zu Exodus 19,3; Weissman 1976, 142).

[179] Zolty 1993, 279; Weissman 1976, 142.

[180] Zolty 1993, 278 und 280; Weissman 1976, 142; der Rabbiner der Belzer-Bewegung gab Sarah Schenirers Schulprojekt zwar seinen Segen, im Unterschied zum Rabbiner der Gerer-Bewegung erlaubte er den Mädchen der Belzer Chassidim jedoch nicht, die Schule zu besuchen (Zolty 1993, 278 und 280).

[181] Weissman 1976, 142; Zolty 1993, 280.

[182] Den «Beit Ja‘akow»-Schulen ist es gelungen, die Schülerinnen zu selbstbewussteren jüdischen Frauen zu erziehen; zwar sollte die Stärkung der jüdischen Identität die Mädchen unter anderem auch vor den Einflüssen polnischer Feministinnen schützen. Doch, so Deborah Weissman, «through deepening their knowledge of classical Jewish sources, through training them for teaching, secretarial functions (...), and so on, and through providing a framework for organizational activities and international communications for thousands of young Jewish women, Bais Yaakov was functioning to raise the ‹feminist consciousness› of its students» (Weissman 1976, 146; vgl. auch Zolty 1993, 298f.).

[183] Zolty 1993, 290; Greenberg 1987, 98.

[184] Greenberg 1987, 98; vgl. auch Zolty 1993, 298.

[185] Weissman 1976, 139; Cohen 1988, 33.

[186] Weissman 1976, 142f.; zum Angebot gehörten Tagesschulen auf Primar- und Mittelschulstufe, Nachmittagsklassen für jene Schülerinnen, die morgens eine staatliche Schule besuchten, sowie berufsbildende Schulen (Zolty 1993, 292). 1921 wurden mit der Gründung der «Yavne»-Schulen auch in Litauen institutionalisierte Bildungsmöglichkeiten für orthodoxe jüdische Mädchen geschaffen (Zolty 1993, 66).

[187] Cohen 1988, 32.

[188] Zolty 1993, 246; dennoch war die jüdische Bildung einer Mehrheit der Mädchen und Frauen im Vergleich zur jüdischen Bildung der Jungen und Männer auch weiterhin wesentlich weniger umfassend (Cousens 2002, 3). Bis schliesslich auch das Talmudstudium für Frauen institutionell zugänglich wurde, sollten noch einmal rund fünf Jahrzehnte vergehen (vgl. dazu Abschnitt «Höhere jüdische Bildung». Schenirers Aufbau der «Beit Ja’akow»-Schulen in den beiden Jahrzehnten vor dem Zweiten Weltkrieg bildete jedoch eine wichtige Grundlage für diese Entwicklung: «Once she accomplished what she did, those who watched it happen and those who understood it as a more perfect expression of a woman’s Jewishness somehow found a halakhic way to make Jewish education for women legitimate, even desirable» (Greenberg 1981, 47).

[189] Zolty 1993, 300.

[190] Greenberg 1987, 98; Ross 2004, 31; Glaberson 2006, XXIIIf.; B. C. Glaberson hat 2006 einen Sammelband herausgegeben, der Interviews mit charedischen Pädagoginnen enthält. In der Einleitung erklärt er, dass «Beit Ja’akow»-Schulen zwar einen wichtigen Beitrag zum Bewahren des Judentums leisteten, Schulen für Mädchen jedoch grundsätzlich nicht ideal seien: «The place where a Jewish daughter learns and grows is within a Jewish home» (Glaberson 2006, XXII). Säkulare Fächer lehnt er ab: «There should be no such concept and attitude as limudei chol (secular studies)» (Glaberson 2006, XXIII). Eine der befragten Frauen, die in einer «Beit Ja’akow»-Schule tätig ist, vermittelt einen Einblick in Lerninhalte: «I was once asked at an educators’ conference if our girls study subjects like biology or psychology. I told them that we also study the ‹ologies›. We learn mop-ology, bake-ology and a few more like that. Everyone burst out laughing. But afterwards they agreed with me that those are useful subjects because when a bas Yisroel runs a home, it is important for her husband’s learning that they live in a tidy, orderly heimishe (...) environment. Our girls do not feel deprived because they don’t study biology or psychology in the secular way» (Glaberson 2006, 13).

[191] Menachem M. Schneerson, Likutei Sichot (hebr. Version [Original: Jiddisch]), New York 1990, 173, englische Übersetzung zitiert aus Zolty 1993, 84; im Unterschied zum Mann ist die Frau allerdings nicht zu Talmud Tora verpflichtet (Zolty 1993, 69f. und 81f.). In Teilen des charedischen Judentums blieb der Zugang zu jüdischer Bildung für Frauen eingeschränkt (Glaberson 2006, XXIIf.).

[192] Schneerson, 10. März 1981, im Gespräch mit dem Rabbiner der chassidischen Belzer-Bewegung; Übersetzung aus dem Jiddischen; zitiert aus Handelman 1998, 152.

[193] Ähnlich hatte 1960 der Rabbiner Benzion Fuerer (1914–1988; auch Firer geschrieben) argumentiert: «Wenn die Tochter von heute nicht Tora studiert, eignet sie sich stattdessen tatsächliche Ausgelassenheit (תפלות) an. Es ist klar, dass wenn wir zwischen tatsächlicher Ausgelassenheit und ‹Als-ob-Ausgelassenheit› wählen müssen, wir Letzteres wählen müssen» (No’am, Band 3, 131; zeitgenössische Responsensammlung, von Menachem [Moshe Shlomo] Kasher [1895–1983] ab 1958 jährlich herausgegeben; hebr., zitiert aus Ellinson 1975, 161 [Übersetzung: vr]; vgl. auch Zolty 1993, 68f., und Weinberger 1985, 46f.).

[194] Zolty 1993, 85.

[195] Menachem M. Schneerson, Likutei Sichot (hebr. Version [Original: Jiddisch]), New York 1990, 174, englische Übersetzung zitiert aus Zolty 1993, 84.

[196] bBerachot 17a.

[197] Leibowitz 1992, 129.

[198] Leibowitz 1992, 131.

[199] Leibowitz 1992, 129; Schechina: die Präsenz Gottes; in der Mischna wird beschrieben, dass die Schechina bei jenen weile, die «sich mit der Tora beschäftigen» (mAwot 3,6; Leibowitz 1992, 275).

[200] Leibowitz 1992, 130.

[201] Henkin 2003, 17.

[202] Henkin 2003, 17.

[203] Henkin 2003, 14; vgl. auch Silver 1978, 81.

[204] Henkin 2003, 5f.

[205] Broyde/Brody 2011, 46.

[206] Allerdings gibt es insbesondere in der charedischen Bevölkerung nach wie vor auch Gegner eines umfassenden Zugangs zu Talmud Tora für die Frau; zu den prominentesten gehörte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Joel Teitelbaum (1888–1979; USA; Wolowelsky 2001, VIII; Broyde/Brody 2011, 27; vgl. auch Kehat 2004, 211f.).

[207] Vgl. dazu Abschnitt «Frauen in klassischen Männerberufen».

[208] Greenberg 1981, 47; Halpern/Safrai 1998, 6; Furstenberg 2000; Barack Fishman 2001, 2.

[209] Golinkin 2011, 55; Ross 2004, 72; Vorreiter waren die 1937 von Joseph B. Soloveitchik (1903–1993) – auch er gehörte zu den Befürwortern eines umfassenden Zugangs von Frauen zu Talmud Tora (Zolty 1993, 95) – in Boston eröffnete Maimonides School, deren koedukativer Unterricht auch das Talmudstudium umfasste, sowie das 1954 an der New Yorker Yeshiva University (YU) gegründete Stern College for Women und das 1970 ebenfalls an der YU eröffnete Beit Midrasch für Frauen (Farber 2004, 50, 69 und 83f.; Barack Fishman 1989, 49; Halpern/Safrai 1998, 6; Ross 2004, 31 und 71). Die Etablierung von sich an Jeschiwot orientierenden Schulen für Frauen erfolgte jedoch in Israel (Ross 2004, 71f.; Seidler-Feller 1990, 83; Furstenberg 2000).
In den Institutionen des konservativen und liberalen Judentums hatte es für Frauen schon zuvor Studienmöglichkeiten gegeben. Am konservativen Jewish Theological Seminary in New York beispielsweise begann Henrietta Szold 1903 zu studieren. Zugelassen wurde sie allerdings erst, nachdem sie sich verpflichtet hatte, nach Studienabschluss auf eine Ordination zu verzichten (Grossman/Haut 1992, 8). An der Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums wurden die ersten Studentinnen 1921 zugelassen, die erste Frau mit Hörerinnenstatus 1906 (Klapheck 1999, 90).

[210] Ross 2004, 72; seit der Gründung von «Drisha» in New York 1979 (Vollzeitstudien seit 1984) gibt es auch in den USA erste entsprechende Institutionen für Frauen, zu welchen unter anderem das 1992 bei Boston eröffnete «Ma'ayan» gehört (Farber 2004, XVI; Thesing 2011, 97f.; Ross 2004, 72); in Europa gibt es bisher keine vergleichbaren Schulen für orthodoxe Frauen.

[211] Kehat 2004, 209.

[212] Kehat 2004, 213; Chana Kehat bezieht sich in ihrer Aussage auf das modern-orthodoxe Judentum. In anderen orthodoxen Kreisen, beispielsweise im charedischen Judentum, sei der Zugang von Frauen zu jüdischem Wissen wesentlich weniger ausgeprägt, und das Talmudstudium sei stets davon ausgenommen (Kehat 2004, 211f.; vgl. auch Glaberson 2006, XVf.). Kehat weist auch auf unterschiedliche Entwicklungen in Israel und der Diaspora hin: Während sich die Frauen in Israel auf Talmud Tora konzentrierten, legten die in einer pluralistischen Gesellschaft lebenden Jüdinnen in der Diaspora mehr Wert auf aktivere Rollen und Kompetenzen im rituellen Bereich (Kehat 2004, 209 und 213; vgl. auch Ross 2004, 28, und Barak Fishman 2001, 4). In der Schweiz sind Gruppierungen wie «Chug Schabbat Acheret» (Zürich) oder «Ofek» (Basel) Beispiele dafür (Girau Pieck et al. 2011, 18). Allerdings gibt es auch unter in Israel lebenden modern-orthodoxen Frauen Bestrebungen, im Gottesdienst aktiv einbezogen zu werden. Das 2001 in Jerusalem gegründete sogenannte Partnership-Minjan «Shira Hadasha» ist ein Beispiel dafür [3. Oktober 2012]).

[213] Admanit 2004, 191.

[214] Paula Ackerman hat nach dem Tod ihres Mannes William Ackerman 1950 auf Bitte der Gemeinde Beth Israel in Meridian (MS) während drei Jahren dessen rabbinische Funktionen übernommen (Nadell 1998, 120f.).

[215] Zu Leibowitz und Hurwitz vgl. Abschnitt «Frauen in klassischen Männerberufen».

[216] Zum Studium der evangelisch-reformierten Theologie hatten Frauen im deutschsprachigen Raum ab dem frühen 20. Jahrhundert Zugang (Girau Pieck et al. 2011, 53; Sohn-Kronthaler/Sohn 2008, 135), zur katholischen Theologie ab den späten vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts (Girau Pieck et al. 2011, 40; Sohn-Kronthaler/Sohn 2008, 137f.).

[217] Für weiterführende Literatur vgl. u.a. Doris Brodbeck; Yvonne Domhardt; Judith Stofer (Hg.): Siehe, ich schaffe Neues. Aufbrüche von Frauen in Protestantismus, Katholizismus, Christkatholizismus und Judentum in der Schweiz. Bern 1998; Uta Blohm: Religious Traditions and Personal Stories. Women Working as Priests, Ministers and Rabbis. Frankfurt a. M. 2005; Eidgenössische Kommission für Frauenfragen (Hg.): Frauenrechte – Kultur – Religion. Frauenfragen 1/2, 2010.

[218] Ross 2004, 229f.

[219] Zolty 1993, 301; vgl. auch Ross 2004, 174; Furstenberg 2000; Encyclopaedia Judaica 2007, Band 12, 621f.

[220] Encyclopaedia Judaica 2007, Band 12, 621; Leibowitz hatte schon seit 1957 an der Tel Aviv University unterrichtet; ungewöhnlich an Nechama Leibowitz war zudem, dass sie nicht nur im akademischen Umfeld lehrte, sondern auch in traditionellen Jeschiwot (Ross 2004, 177, und Wolowelsky 2002, 61).

[221] Website Avivah Zornberg, (3. Oktober 2012). Nechama Leibowitz hatte als Kind gemeinsam mit ihrem Bruder Yeshayahu Leibowitz vom Vater Tora- und Talmudunterricht erhalten und Avivah Zornberg stammt aus einer Rabbinerfamilie (Unterman 2009; [3. Oktober 2012]).

[222] Hauptman 1998, 1; Website des JTS, (3. Oktober 2012).

[223] Nadell 1998, 202f.; Greenberg 1990, 26; Website Ohel Ayalah, (3. Oktober 2012).

[224] Outlook Magazine, Frühling 1984, zitiert aus Nadell 1998, 203.

[225] Nadell 1998, 203; seit 2003 ist Judith Hauptman auch Rabbinerin. Ihre Ordination hat sie an der Academy for Jewish Religion in New York erhalten (Website des Jewish Theological Seminary, [3. Oktober 2012]; zur Academy of Jewish Religion vgl. Fussnote 266).

[226] Berkowitz wechselte 2012 als Associate Professor of Jewish Studies an die Columbia University (Websites des Jewish Theological Seminary, der Columbia University und der Tel Aviv University, [3. Oktober 2012]).

[227] Halpern/Safrai 1998, 305f.; das Jerusalemer «Pardes Institute of Jewish Studies» wird koedukativ geführt, die anderen drei Institutionen richten sich ausschliesslich oder vorwiegend an Frauen.

[228] Bisher sind fünf Bände erschienen. Einführungsband: Tal Ilan et al. (Hg.): A Feminist Commentary on the Babylonian Talmud: Introduction and Studies. Tübingen 2007.

[229] Henkin 1999, 17; Wolowelsky 2002, 54.

[230] Henkin 1998, 286.

[231] Henkin 1998, 278f.; vgl. u. a. Sefer Hachinuch, Gebote 78 und 152; David Ben Zimra (Radbaz; 1479–1573) zu Hilchot Melachim 1,5 (Henkin 1998, 283f. und 279f.).

[232] Henkin 1999, 18; Henkin 1998, 286; die Jo’ezet Halacha nehme, so Christina Thesing, «keinerlei aktive rituelle oder seelsorgerische Funktion in der Gemeinde» ein, und ihre Arbeit sei auf den «privaten Lebensbereich» beschränkt (Thesing 2011, 138).

[233] Ganzel/Zimmerman 2011, 165f.

[234] Henkin/Henkin, Limmud Conference, University of Warwick, 29. Dezember 2009; (12. Oktober 2012).

[235] Ganzel/Zimmerman 2011, 162.

[236] Golda Koschitzky Center, (3. Oktober 2012).

[237] Nishmat-Webite, (3. Oktober 2012).

[238] Ganzel/Zimmerman 2011, 165f.

[239] Ganzel/Zimmerman 2011, 170.

[240] Thesing 2011, 139; Ganzel/Zimmerman 2011, 162; 2009 waren in den USA drei Jo’azot Halacha tätig (Henkin/Henkin, Limmud Conference, University of Warwick, 29. Dezember 2009 [12. Oktober 2012]).

[241] Ein weiteres Beispiel dafür ist die To’enet Rabbanit, die Rechtsanwältin mit umfassenden halachischen Kenntnissen in rabbinischen Gerichten; die 1990 institutionalisierte Ausbildung für To’anot Rabbaniot wird allerdings aufgrund mangelnder Nachfrage seit 2009 nicht mehr angeboten; weil die Ausbildung nur zur Tätigkeit in Rabbinischen Gerichten, nicht aber in Zivilgerichten befähigte, erwies sie sich längerfristig als unattraktiv (Golinkin 2011, 56). Zu den prominentesten To’anot Rabbaniot gehört seit Mitte der neunziger Jahre Rachel Levmore (Website des Council of Young Israel Rabbis in Israel, [12. Oktober 2012]). Eine Ausnahme bildet der Beruf der Soferet, der Toraschreiberin, die, wie der Sofer auch, ausserhalb von Institutionen oder Gemeinden arbeitet. Im Gegensatz zu anderen Berufsfeldern sind Toraschreiberinnen im frühen 21. Jahrhundert jedoch vereinzelte Pionierinnen (Websites der in den USA lebenden Toraschreiberinnen Yen Taylor Friedman und Aviel Barclay, [12. Oktober 2012]; für eine halachische Darstellung des Soferet-Berufs vgl. Jen Taylor Friedman: Women's Eligibility to Write Sifrei Torah, in: Meorot 6, 2007, 28 Seiten [12. Oktober 2012], und Dov Linzer: A Response to «Women's Eligibility to Write Sifrei Torah», in: Meorot 6, 2007, 11 Seiten [12. Oktober 2012]).

[242] Rackman 1995, 66; vgl. auch Wolowelsky 2002, 59, und Henkin 1998, 285f.; zu den halachischen Grundlagen der Smicha (Ordination) vgl. Broyde/Brody 2011, 28f.

[243] Auch die Seelsorge sowie die Vorbereitung und Begleitung von Gemeindemitgliedern anlässlich von Zeremonien wie Bar- und Bat-Mizwa oder Hochzeit oder das Durchführen von Beerdigungen gehören zu den Aufgaben des Gemeinderabbinats.

[244] Nadell 1998, 168 und 195; wer als erste ordinierte Rabbinerin gilt, ist umstritten. In der Regel wird die in Berlin lebende Regina Jonas (1902–1944) für die erste ordinierte Frau gehalten. Der Absolventin der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums wurde im Dezember 1935 – fünf Jahre nach Studienabschluss – vom liberalen Rabbiner Max Dienemann eine Privatordination verliehen (Klapheck 1999, 34f.; Nadell 1998, 85f.). Renée Levine Melammed bezeichnet Asenat Barzani (17. Jahrhundert) als erste Rabbinerin (Levine Melammed 2011; vgl. oben), und David Golinkin macht auf eine Mitte des 19. Jahrhunderts an Rivka Hina verliehene Ordination aufmerksam (Golinkin 2011, 47); vgl. dazu auch Fussnote 261.

[245] Die Yeshivat Maharat in New York wird ihren Absolventinnen den Titel Maharat verleihen, vgl. dazu Abschnitt «Die Frau im Rabbinat (Teil 2): Maharat, Rabba».

[246] Thesing 2011, 100; auch die in Israel tätigen Jo’azot Halacha nehmen eine rabbinische Aufgabe wahr, sie grenzen sich jedoch bewusst gegenüber dem Rabbinat ab (Henkin 1999, 18; Thesing 2011, 138; vgl. oben). Insbesondere in Israel und in den USA gibt es immer mehr Gemeinden ohne festangestellten Rabbiner. Ein grosser Teil seiner Funktionen werden ehren- oder nebenamtlich von verschiedenen Gemeindemitgliedern, die über eine rabbinische Ausbildung verfügen, wahrgenommen (Wolowelsky 2002, 59; Hurwitz 2006, 10). In vielen Gemeinden wird auch kein Chasan (Vorbeter) beschäftigt, sodass auch diese Funktion Laien übertragen wird. In einer wachsenden Zahl liberaler und konservativer Gemeinden sowie teilweise auch in kleineren orthodoxen Gemeinden mit Rabbiner, aber ohne Chasan, nimmt das Rabbinat auch dessen Aufgaben wahr. Wegen der gebotenen Geschlechtertrennung während des Gebets und weil die Frau halachisch nicht zu allen Gottesdienstteilen verpflichtet ist, kann sie in einer orthodoxen jüdischen Gemeinde nicht die Rolle einer Chasanit (Vorbeterin) einnehmen.

[247] Thesing 2011, 100.

[248] Finman 2006, 17; Finman weist darauf hin, dass die Aufgabenbereiche einer Congregational Intern von Gemeinde zu Gemeinde variieren können.

[249] Thesing 2011, 100; Website des «Hebrew Institute of Riverdale», (3. Oktober 2012).

[250] Website des «Hebrew Institute of Riverdale», (3. Oktober 2012).

[251] Zu den fünf Prozent, die Frauen nicht wahrnehmen können, sagt Hurwitz: «As of now, Orthodox women do not lead services and women are barred from acting as witnesses for marriage, divorce, and conversion. But beyond these few halkhic constraints, women, with the appropriate training, can fulfill the tasks of the rabbi» (Hurwitz 2009, 145); Sara Hurwitz wurde 2009 der Titel Maharat und 2010 der Titel Rabba verliehen (vgl. Abschnitt «Die Frau im Rabbinat [Teil 2]: Maharat, Rabba»).

[252] Hurwitz 2009, 153.

[253] Finman 2006, 17; Greenberg 1990, 32f.

[254] Die Titelvielfalt für Frauen in rabbinischen Funktionen zeugt vom derzeitigen Entwicklungsprozess. Neben Congregational Intern, Madricha Ruchanit, Maharat und Rabba gibt es beispielsweise auch eine Rosch Kehilla (Gemeindeleiterin; das Amt wird seit 2006 von Dina Najman in der New Yorker Gemeinde Kehilat Orach Eliezer ausgeübt, welche sich als Gemeinschaft «within a halachic framework» definiert; Website der Kehilat Orach Eliezer [3. Oktober 2012]; Hurwitz 2009, 151f.). Sara Hurwitz war vor der Verleihung des Titels Maharat bzw. Rabba (vgl. dazu nächsten Abschnitt) davon ausgegangen, dass sie den Titel Morateinu (unsere Lehrerin) tragen würde (Hurwitz 2009, 152) und hatte noch 2006 für den – für die Ehefrau eines Rabbiners gebräuchlichen – Titel Rabbanit plädiert (Hurwitz 2006, 11). Der in Israel lebende Rabbiner Shlomo Riskin regte 2010 zum Titel «Morah Rabbah» an: «(…) hence I would not give a woman the specific title of ‹Rabbi.› After all, in small synagogues the rabbi is often expected to serve as cantor and/or Torah reader, which are functions that a woman cannot halachically perform for the men in the congregation. Perhaps a more acceptable title might be Morah Rabbah, Great Leader, bearing in mind that the permission to give halakhic leadership, or direction, is heter hora'ah, yoreh yoreh, from the same root» (Shlomo Riskin in einem Kommentar zum Tora-Wochenabschnitt Schoftim, August 2010, Website der Ohr Torah Stone, [3. Oktober 2012]).

[255] Bin-Nun et al. 2009, 23.

[256] Bin-Nun et al. 2009, 6; zum Begriff שררהvgl. auch Broyde/Brody 2011, 38.

[257] «At the Hebrew Institute, she is a full member of the rabbinic staff, where she fulfills all functions of a rabbi, including teaching, speaking from the pulpit, officiating at life cycle events, including funerals and weddings, and addressing congregants’ halachic questions» (Website der Yeshivat Maharat, [20. Januar 2012] bzw. hier [3. Oktober 2012]).

[258] Hurwitz 2009, 145; im liberalen und konservativen Judentum des 21. Jahrhunderts nehmen Rabbinerinnen diese Aufgaben wahr.

[259] Kleinberg 2012, 86.

[260] Später verwendete Weiss im Zusammenhang mit Hurwitz sowohl den Rabbiner- als auch den Ordinationsbegriff explizit: «Over this past year, I have, on numerous occasions, in talks and symposia around the country, said as clearly as I could that Mahara”t means rabbi, and that Sara Hurwitz has received semikha» (Stellungnahme von Avraham Weiss, zitiert in Sara Hurwitz’ Blog «Morethodoxy», 28. Januar 2010, «Mahara”t to Rabba», [3. Oktober 2012]).

[261] Seit den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts sind mindestens drei Frauen von orthodoxen Rabbinern ordiniert worden (1994 bzw. 1996 die damals 31-jährige Israelin Mimi Feigelson, eine Schülerin von Shlomo Carlebach, 2000 die 1934 in Wien geborene und in Israel lebende Eveline Goodman-Thau von Jonathan Chipman sowie 2006 die 36-jährige Haviva Ner-David, die in New York aufgewachsen ist und ebenfalls in Israel lebt, von Aryeh Strikovsky). Doch bisher hat keine dieser Frauen in einer orthodoxen jüdischen Gemeinde als Rabbinerin gearbeitet (Rocker 2009; Hein [undatierte Website, , 3. Oktober 2012]).

[262] Stellungnahme von Avraham Weiss, zitiert in Sara Hurwitz’ Blog «Morethodoxy», 28. Januar 2010, «Mahara”t to Rabba», (3. Oktober 2012).

[263] In der Zeitung «The Canadian Jewish News» vom 24. März 2011 wird Weiss folgendermassen zitiert: «‹What I did that was different was to give it a title,› Rabbi Weiss said. ‹That’s where I took a step and went where others have not gone, but functionally, there literally was no difference›» (Kraft 2011).

[264] Hakirah 2011, 15.

[265] Hakirah 2011, 17.

[266] Stellungnahme des RCA vom 5. März 2010 (Website des RCA, [3. Oktober 2012]); Sara Hurwitz nennt sich weiterhin Rabba (vgl. z. B. Website der Yeshivat Maharat, [3. Oktober 2012]. Im Mai 2011 wurde an der Academy of Jewish Religion (AJR) in New York Kaya Stern-Kaufman ebenfalls der Titel «Rabba» verliehen. Die sich als pluralistisch definierende Institution hatte zuvor Frauen ausschliesslich den Titel «Rabbi» bzw. «Raw» verliehen. Weil die aus einer orthodoxen Rabbinerfamilie stammende Stern-Kaufmann nicht denselben Titel tragen wollte wie ihre männlichen Vorfahren, entschied sie sich für «Rabba». Im Unterschied zu Hurwitz ist Stern-Kaufman nicht in einer orthodoxen Gemeinde tätig, sondern im sich als «traditionell» bezeichnenden egalitären «The Berkshire Minyan» in Great Barrington, Massachusetts (AJR-Website [3. Oktober 2012]).

[267] Die «Yeshivat Maharat» beschreibt sich auf ihrer Website als «the first institution to train Orthodox women as Spiritual Leaders and Halakhic authorities». Im Oktober 2012 studierten 15 Frauen an der Yeshivat Maharat. Die Institution wird von Sara Hurwitz geleitet (Website der Yeshivat Maharat; [3. Oktober 2012]). Mit dem Begriff «Jeschiwa» verwendet die Schule denselben Begriff wie die Institutionen, die Männer für das Rabbinat ausbilden.

[268] Der in Los Angeles lebende Rabbiner Chaim Seidler-Feller spricht von der Angst, die Macht zu teilen: «Only when male authorities are no longer threatened by women trained in the intricacies of the Talmudic tradition and possessed of a sophisticated Jewish knowledge, and when their impulse to use the halakhic process to preempt the central questions involved is delegitimized can equality and meaningful power-sharing be achieved. As long as present attitudes prevail, however, and the rabbinic leadership refuses to acknowledge the motive underlying their behavior, the struggle for power will continue unabated and the casualties will multiply» (Seidler-Feller 1990, 84); nicht zuletzt aus diesem Grund haben das liberale und das konservative Judentum erst in den siebziger bzw. achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts damit begonnen, Frauen zu ordinieren.

[269] Broyde/Brody 2011, 56.

[270] Broyde/Brody 2011, 57; es braucht allerdings eine klärende Definition der verschiedenen für Frauen in rabbinischen Funktionen verwendeten Titel; «Rabba» etwa suggeriert ein Äquivalent zu «Rabbiner», ist es aber insbesondere aufgrund der fehlenden Möglichkeit, Teil des Bet Dins zu werden, nicht ganz.

[271] Kleinberg 2012, 83 und 94.

[272] Im liberalen Verband «Central Conference of American Rabbis» (CCAR) der USA wurde 1979 mit Laura Geller erstmals eine Frau Mitglied des Executive Board und 2003 mit Janet Marder (bis 2005 im Amt) erstmals eine Frau Präsidentin des Board of Trustees. Im konservativen Judentum hatte Beverly Magidson 1991 bis 1994 als erste Frau Einsitz in der Leitung der Rabbinical Assembly (RA); seit 2009 ist Julie Schonfeld stellvertretende Präsidentin (Executive Vice President) und 2010 bis 2012 war Gilah Dror Vorsitzende (President) des Verbandes (Thesing 2011, 325; RA-Website, [4. Oktober 2012]; schriftliche Auskunft von Deborah Prinz, Rabbinerin und CCAR-Mitarbeiterin [17. Oktober 2012]; schriftliche Auskunft von Sara Figueroa, RA-Mitarbeiterin von Julie Schonfeld [4. Oktober 2012]).

[273] Biale 1995, 30; Abrahams 1896, 344; Ross 2004, 17; Soloveitchik 1978, 77.

[274] Soloveitchik 1978, 76f.; im Gegensatz zur Tradition der Väter (מוסר אביך), die das Studium biblischer und rabbinischer Literatur beinhalte, beschrieb

Soloveitchik תורת אמך folgendermassen: «She taught me that there is a flavor, a scent and warmth to mitzvot. I learned from her the most important thing in life – to feel the presence of the Almighty» (Soloveitchik 1978, 77; vgl. auch Harvey 1981, 126f.; Zolty 1993, 92f.). Demgegenüber ist der in Israel lebende Rabbiner Shlomo Riskin als Kind von seiner Grossmutter – sie war als ältestes Kind von ihrem Vater unterrichtet worden – in die Technik des Talmudstudiums eingeführt worden, was seine Haltung gegenüber jüdischer Bildung für Frauen und sein diesbezügliches Engagement prägte (Riskin 2010, 5f.).

[275] Zlochower 2006, 12.

[276] Tamar Ross, Vortrag an der Limmud Conference, University of Warwick, 31. Dezember 2008.

[277] Greenberg 1993, 50f.

[278] Henkin 1998, 287; Chesed: Güte, Liebenswürdigkeit; Middot: Tugend.

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Valérie Rhein,

ist Doktorandin am Institut für Judaistik der Universität Bern. Ihr Forschungsschwerpunkt ist die Religionspraxis der Frau im Judentum.

© Valérie Rhein, 2012, lectio@theol.unibe.ch, ISSN 1661-3317

 
 
 
 

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