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01-2000
Silvia Schroer Die Gerechtigkeit der Sophia - Biblische Weisheitstraditionen und feministische Diskurse
Abstract:
Pour l'Ancien Orient et pour l'Ancien Israel les conceptions de sagesse et de justice formaient une unité forte. Sur cet arrière-plan la critique féministe, qui soupçonne la sagesse biblique de ne rien avoir à faire avec la tradition prophétique et de ne pas s'intéresser à la justice concrète, est au moins étonnante. Silvia Schroer essaie de situer quelques positions féministes dans l'histoire de l'exégèse et de la théologie du vingtième siècle, qui les deux se sont orientées presque exclusivement vers la prophétie. Dans son article Schroer essaie de trouver un nouveau point de départ pour une exegèse féministe des textes bibliques sur la sagesse. Il ne suffit pas de découvrir que la sagesse est féminine, il nous faut expliquer son rapport à la justice, et spécialement à la justice pour les femmes, les enfants, la création. Par conséquence la sagesse biblique comme figure ne sera plus seulement l'image d'une femme gentille, mais aussi le symbole d'un jugement divin.
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1. Forschungsgeschichtliche Situierung der Problemstellung
Seit den 70er Jahren haben sich feministische Theologinnen intensiv mit der personifizierten Weisheit in den hebräischen und griechischen Texten des Ersten Testaments und mit den Spuren dieser Weisheit bzw. einer weisheitlichen Deutung des Lebens und Sterbens Jesu von Nazareth beschäftigt. Das große Interesse war vorwiegend darin begründet, daß die Chokmah/Sophia zweifellos Versuche der nachexilischen jüdischen und später christlichen Gemeinden dokumentiert, von Gott, aber auch von Jesus in weiblichen Bildern zu sprechen, die einerseits die ansonsten stark verdrängten Göttinnentraditionen der Biblischen Umwelt und andererseits israelitische Frauenbilder in sich aufgenommen hatten. [1] In jüngerer Zeit wich die erste Begeisterung kritischen Anfragen an die biblische Weisheitstradition. Die Gestalt der personifizierten Chokmah in der Rahmung des Sprüchebuches kann, wie Christl Maier gezeigt hat, nicht abgelöst werden von ihrem problematischen Gegenbild, der »fremden Frau«. [2] Angelika Strotmann (vgl. weiter unten) warnt vor »antijüdischen Fallstricken« der Weisheitschristologie, vor allem vor der unkritischen Rezeption der in den Q-Logien angelegten Gerichtsdrohungen gegen Israel. [3]
Fundamentale, vor allem sozialkritische Anfragen wurden von Luise Schottroff formuliert. [4] Sie erkennt einen unüberbrückbaren Graben zwischen dem »Armenevangelium«, das sie nur in der prophetischen Tradition verankert sieht, und dem Anliegen der nachexilischen Weisheitsschriften, männlichen Mitgliedern der wohlhabenden und gebildeten Gesellschaft Anleitungen für ein Leben in Weisheit mitzugeben. Für Schottroff müßte der Ansatzpunkt einer feministischen Weisheitstheologie in der Gottesoffenbarung bzw. der Verkündigung des Evangeliums an die Adresse der Unmündigen und Ungebildeten liegen, weil in patriarchalen Kulturen Frauen und Kinder in besonderem Maß (für) unmündig und ungebildet gehalten werden.
Viel pauschaler als Luise Schottroff hat Dorothee Sölle ihre Bedenken in dem programmatischen Satz »Weisheit geht nun einmal nicht mit der prophetischen Tradition zusammen« gebündelt. [5] Angesichts der Tatsache, daß heute auch Managerkreise sehr empfänglich sind für »Weisheit« aller Art, muß die zentrale Frage der feministischen Theologie tatsächlich die nach dem Verhältnis von Weisheit und Gerechtigkeit sein. Um in dieser Diskussion einen Schritt weiterzukommen, möchte ich im folgenden zunächst die feministische Auseinandersetzung um die Weisheit in der - weitgehend evangelischen - exegetisch-theologischen Forschungsgeschichte unseres Jahrhunderts situieren. [6]
Das 19. Jahrhundert stellte mit der Wiederentdeckung altorientalischer Kulturen die Bibelwissenschaft vor neue Fakten, auf die sie nur zögernd zu reagieren vermochte. Hermann Gunkel, der Begründer der »Religionsgeschichtlichen Schule«, war einer der ersten, der den Einfluß babylonischer Schöpfungsmythen auf biblische Texte untersuchte und in differenzierter Weise für den theologischen Respekt vor den Zeugnissen altorientalischer Religion warb, da in ihnen die Urahnen der israelitischen Religion zu Worte kommen. Obwohl die extremistische Verzerrung der Positionen der »Religionsgeschichtlichen Schule« im sogenannten Bibel-Babel-Streit ihren Anliegen enorm schadete, ging die Erforschung der Verwandtschaft zwischen altorientalischen und biblischen Traditionen weiter. So entdeckte beispielsweise Adolf Erman, daß Sprüche 22,17-24,34 vom ägyptischen Weisheitsbuch des Amenemope abhängig ist.
Der religiöse Universalismus der Jahrhundertwende fand mit dem aufkommenden Nationalismus und dem ersten Weltkrieg ein vorläufiges Ende. Theologisch vermochte darauf erst die dialektische Theologie Karl Barths u.a. zu reagieren, indem sie den bedrohlich irrationalen Kräften ihrer Zeit die Einmaligkeit Israels und des Christusereignisses, einer von oben einbrechenden Offenbarung, entgegensetzten. Nur eine solche Theologie konnte sich gegen die Vereinnahmung durch den Nationalsozialismus schützen. Im Namen des Absoluten nahm sie es mit den sich absolutistisch gebärdenden Mächten ihrer Zeit auf. Dieser Theologie, deren Schüler und Enkel die herrschende Exegese bis heute prägen, galt das Wort Gottes - vermittels der Propheten -, die Geschichte und der Exodus als Zentrum von Offenbarung und Glaube. Die Schöpfungs- und Weisheitstraditionen, in denen das spezifisch Israelitische vermeintlich weniger gut zu fassen war, gerieten vollständig in den Hintergrund. Erst in den 60er und 70er Jahren begann man sich ihnen überhaupt wieder zuzuwenden. [7] Der Zusammenhang zwischen Schöpfungs- und Weisheitstraditionen ist ursächlich, da die in der Schöpfung grundgelegten Ordnungen dieselben sind, die von den Weisen aufgespürt werden, um Anweisungen für ein gelungenes Leben zu geben. Ihre Nähe zeigt sich auch darin, daß in ihnen regionen- oder volksspezifische Gottheiten zugunsten eines Urhebergottes zurücktreten und daß beide international sind. Schöpfungs- und Weisheitstheologie teilen zudem eine unmittelbare Zugänglichkeit, da sie von allgemein Erfahrbarem, der geschaffenen Welt oder dem Alltagsleben, ausgehen.
Trotz der allmählichen Wiederentdeckung ist in der deutschsprachigen Theologie bis heute die theologische Dignität der Weisheitstraditionen nicht in ausreichendem Maß wiederhergestellt worden. Noch immer herrscht in Folge der dialektischen Theologie profunde Skepsis gegenüber dem Wert der biblischen Weisheitsüberlieferungen, eine Skepsis, die sicher in evangelischen Kreisen ausgeprägter ist als in katholischen, aber durch die katholische Theologie, die sich auf einen um zahlreiche griechische Weisheitsschriften reicheren Kanon bezieht, auch nicht entschieden ausgeräumt wurde. Die Skepsis macht sich an einem weitgehend konstruierten Gegensatz zwischen Schöpfung/Weisheit und Geschichte/Befreiung/Erlösung fest, sie postuliert eine unüberwindbare Kluft zwischen diesen Gegensätzen, hält die alttestamentliche Schöpfungstheologie in Anlehnung an den frühen Gerhard von Rad für eine unwesentliche, nicht authentisch israelitische oder späte Erscheinung und stellt Schöpfung bzw. Weisheit komplett in den Dienst des Befreiungsprogramms. [8]
Hier genau liegt theologiegeschichtlich die Aversion evangelischer Theologinnen wie Luise Schottroff auf (feministische) Weisheitstheologie begründet. Damit sind die berechtigten Anfragen inhaltlich keineswegs erledigt. Aber vielleicht können wir nun schärfer erkennen, was die Aufgabe der feministischen Theologie ist, nämlich die genannten theologischen Fixierungen aufzubrechen. Die Ketubim (Schriften) gehören wie Tora (Gesetz) und Nebiim (Propheten) zur jüdischen Tradition. Eine christliche Theologie, die sich einseitig nur auf die Prophetie bezieht bzw. nur ihr die volle Autorität des Wortes Gottes zuspricht, macht sich mindestens der Engführung der jüdischen Tradition verdächtig. Im Fall der Abgrenzung der ChristInnen gegen »jüdischen« Gesetzesglauben werden die Folgen solcher Ausblendungen allmählich wahrgenommen. Mir scheint aber eine grundsätzliche Geringschätzung von Büchern wie Proverbien, Ijob oder Kohelet, aus welchen Gründen auch immer, ebenfalls problematisch. Darüber hinaus ist es kurzsichtig, den Impetus der Jesusbewegung nur mit den Rastern prophetischer Tradition zu erschließen, da die Evangelien ständig auf weisheitliche Motive rekurrieren und Jesus zweifellos (auch) als einen im Volk Weisheit Lehrenden darstellen. Die christliche feministische Theologie am Anfang des 3. Jahrtausends darf die blackouts der herrschenden Theologie nicht übernehmen. Ihre Kritik sollte in der inhaltlichen Auseinandersetzung mit der biblischen Tradition formuliert werden, nicht a priori oder von einem nicht deklarierten Kanon im Kanon her.
2. Weisheit ist die Innenseite der Gerechtigkeit: Die Chokmah als Erbin der Maat
Bleiben wir bei der Frage nach dem Zusammenhang von Weisheit und Gerechtigkeit. Als Alttestamentlerin bin ich überrascht, wenn ausgerechnet diese beiden Größen als sich ausschließende betrachtet werden, sind sie doch in der biblischen Tradition ausdrücklich und in verschiedensten Texten sehr eng aufeinander bezogen. Das zentrale Thema der Spruchweisheit, vieler Psalmen oder des Ijobbuches ist der Lebenswandel der Gerechten gegenüber dem der Verbrecher und Dummköpfe. Alle diese Schriften fragen unermüdlich nach dem Zusammenhang von Tun und Ergehen, also nach den Grundlagen ethischen Verhaltens. Sogar wenn dieser Zusammenhang zerbricht, geht die Suche nach der gottgeschaffenen Ordnung der Welt und der Möglichkeit, in dieser Welt trotzdem weise und gerecht zu leben, weiter (Ijob, Kohelet). Noch das späte Buch der Weisheit steht unter dem Titelvers »Liebt Gerechtigkeit, die ihr die Erde regieret«. Ein ṣadiq ist immer auch mit Weisheit begabt (Psalm 37,30; vgl. Sprüche 10,31):
Der Mund des Gerechten spricht Weisheit,
und seine Zunge redet Recht.
Weisheit ist unabdingbar, um Recht zu erkennen, Recht zu sprechen, in Geradheit zu leben (Sprüche 1,2f; 8,1-21). In der konkreten Gesetzgebung manifestiert sich nach Deuteronomium 4,5f die Weisheit und Einsicht eines Volkes (vgl. Jeremia 8,8-9). Vor allem die Könige, denen obliegt, Gerechtigkeit für die Elenden und Armen zu schaffen, sind auf die Gabe der Weisheit angewiesen (Sprüche 8,15). Das gilt für Salomo (1Könige 3,28) wie auch für den sehnsüchtig erwarteten gerechten Herrscher der kommenden Heilszeit (Jesaja 11,1-10). An Stelle dieser königlichen Gestalten tritt in nachexilischen Texten die personifizierte ḥokmah in Frauengestalt als Künderin der Gerechtigkeit auf.
Religionsgeschichtlich geht die enge Beziehung von Weisheit und Gerechtigkeit generell sowie das Image der personifizierten ḥokmah stark auf altägyptische Vorstellungen zurück, in deren Zentrum die ägyptische Göttin der rechten Ordnung Maat steht. [9] Maat umfaßt das Göttliche und die Natur, das Königtum, die Gesellschaft und die menschlichen Beziehungen; sie steht für die kosmischen und die gottgewollten, d.h. idealen kulturellen Ordnungen. Als Göttin gehört Maat zum ägyptischen Pantheon, sie hat aber eine besondere Stellung, da die anderen Gottheiten auf sie als kosmisches Prinzip hin orientiert sind. Als Zeugin ist sie beim Totengericht zugegen, da sie ja die Ordnung vertritt, für deren Einhaltung der Tote sich beim Totengericht im Jenseits zu rechtfertigen hat. Sie gilt als Tochter des Sonnengottes Re, der jedoch die von der Maat gefügte kosmische Ordnung des Sonnenlaufs zu erfüllen hat. Sie ist eine der Schutzpatroninnen des Königtums, da der König der Garant der gottgewollten kosmischen und gesellschaftlichen Ordnung ist, die menschliches Leben überhaupt erst ermöglicht. Der König bringt deshalb im Kult die Maat als Opfergabe den Göttern dar, das heißt er vollzieht die Maat in Stellvertretung und garantiert für sie, während die Götter selbst sich nicht direkt in den Lauf der Dinge einschalten. Der Gegenbegriff zu Maat ist Isfet, der Zustand der Rechtlosigkeit, der Gewalt und Unterdrückung. Die soziale Ordnung, die die Maat repräsentiert, ist keine demokratische, sondern eine hierarchische. Doch das Recht, für das sie steht, ist das Recht, das dem Schwächeren eine Chance gibt, die Idee einer vertikalen Solidarität der Bessergestellten mit allen Teilen der Gesellschaft.
Die Weisheit des Ersten Testaments ist wie die ägyptische Maat von der Idee einer umfassenden gerechten Ordnung und dem Tun der Gerechtigkeit nicht zu trennen. Die israelitischen Begriffe ṣaedaeqṣedaqah beziehen sich zwar häufig auf soziale Aspekte der Gerechtigkeit, aber sie umfassen viele weitere Vorstellungen von göttlichen Ordnungen der Welt, auch die kosmischen und natürlichen Ordnungen. Die ḥokmah verkörpert ähnlich wie die Maat diese Grundordnungen. Die gegenseitige Abhängigkeit der Harmonie von gesellschaftlichen und kosmischen Ordnungen setzen auch biblische Texte voraus. Wird das Recht korrumpiert, bricht über das Land eine Dürre ein (Hosea 4,2f), stellt der Gesandte JHWHs die Gerechtigkeit wieder her, wird die gesamte Schöpfungsordnung neu gefügt (Jesaja 11,1-9). Das Ijobbuch führt den Betroffenen aus der Enge, in die ihn das Leid trieb, hinaus in die Weite der göttlichen Schöpfung. Das Buch der Weisheit stellt sich vor, daß Gott irgendwann mit Hilfe der gesamten Schöpfung gegen die Toren und Gottlosen in den Kampf ziehen wird (Weisheit 5,14-23).
3. Biblische Kritik an der Weisheit der Weisen
Die biblischen Weisheitsbücher sind an der rechten Ordnung sozialer Beziehungen und anderen Grundordnungen der Welt vorrangig interessiert. In der Schärfe der soziale Mißstände anklagenden Analyse nimmt es so mancher Weisheitstext mit prophetischen Texten auf, wie zum Beispiel Ijob 24, wo die Verelendung absolut mittelloser JudäerInnen in der Zeit nach dem Exil den besser Situierten ungeschminkt als Skandalon vorgehalten wird, oder Sirach 34,24ff, der Text, der Bartolomé de las Casas die Augen für das Unrecht der Conquista öffnete:
Wer ein Opfer darbringt vom Gute des Armen,
ist wie einer, der den Sohn schlachtet vor des Vaters Augen.
Ein kärgliches Brot ist der Lebensunterhalt der Armen;
wer ihm dies entzieht, ist ein Mörder.
Den Nächsten mordet, wer ihn ums Brot bringt,
und Blut vergießt, wer dem Arbeiter den Lohn entzieht.
Ohne Zweifel ist die uns vorliegende, verschriftlichte Weisheitsliteratur in den gebildeten, das heißt wohlhabenden Kreisen Israels entstanden, doch ist mit solchen Prozessen grundsätzlich bei jeder biblischen Literatur zu rechnen, bei Erzählungen, Gesetzen, Liedern oder Gebeten. Wie in Ägypten wurden Weisheitsschriften gern als Lebenslehre eines Vater-Lehrers an einen Schüler-Sohn gestaltet. Hofbeamte, die das Amt eines Ratgebers hatten, galten als professionelle »Weise«. Dennoch ist der Stoff, aus dem Psalmen, Kunstsprüche oder ein Ijobbuch geschaffen sind, Traditionsgut, in das auch mündliche Volksweisheit eingeflossen ist. Sogar die spätere Schriftgelehrtenweisheit eines Jesus Sirach kommt ohne dieses Erfahrungswissen nicht aus. Der hebräische Begriff ḥokmah war nie enggeführt auf Bildung und Wissen, er hatte eine erfahrungs- und praxisbezogene Seite. Als Weise nach altisraelitischem Verständnis galten auch Sachverständige in einem Kunsthandwerk, SpezialistInnen für Rituale (Klagefrauen) und Leute mit viel Lebenserfahrung, bei denen man sich Rat holte.
Daß menschliches Wissen und Erkennen grundsätzlich sehr begrenzt und unzuverlässig ist, hat die gesamte antike Literatur immer wieder thematisiert. Auch daß Weisheit durch die Bindung an Reichtum und Bildung korrumpiert wird, wird nicht erst in biblischen Texten thematisiert, dort aber immer wieder. Schon in der Lehre des Ptahhotep (2350 v.Chr.) [10] wird gewarnt:
Sei nicht eingebildet auf dein Wissen
und verlasse dich nicht darauf, daß du ein Weiser seist,
sondern besprich dich mit dem Unwissenden so gut wie mit dem Weisen.
Es gibt keinen Künstler, der seine Vollkommenheit erworben hat,
denn die Grenzen der Kunst werden nie erreicht.
Vollkommene Rede ist verborgener als ein Malachit,
und doch kann man sie entdecken bei den Mägden über den Mahlsteinen.
Während die Rettung der Stadt Abel-bet-Maacha durch eine weise Frau in der älteren Erzähltradition Israels bewahrt ist (2Samuel 20,14-22), beklagt Kohelet (9,13-16), daß man des armen Weisen, der eine Stadt vor Krieg rettet, wegen seiner Armut nicht gedenkt:
Auch dieses Beispiel von Weisheit habe ich unter der Sonne gesehen,
und es bedünkte mich groß:
Da war eine kleine Stadt,
und der Leute darin waren wenig;
und ein großer König zog gegen sie heran,
belagerte sie und baute wider sie große Bollwerke.
Nun fand sich darin ein armer, weiser Mann;
der rettete durch seine Weisheit die Stadt.
Aber niemand gedenkt jenes Armen.
Da sagte ich mir: Weisheit ist besser als Stärke;
doch die Weisheit des Armen ist verachtet,
und auf seine Worte hört man nicht.
Eingebildete, selbstgefällige Weisheit der Profi-Weisen und Reichen wird in der Weisheitsliteratur selbst immer wieder im Namen JHWHs hinterfragt (Sprüche 3,7; 28,11; Ijob 37,24; vgl. auch Jesaja 5,21):
Halte dich selbst nicht für weise,
fürchte JHWH und meide das Böse.
Echte Weisheit wird den kleinen Leuten zugestanden (Sprüche 11,2), den Supergescheiten aber legt Gott das Handwerk (Ijob 5,12) und sorgt dafür, daß ihr Wissen zur Narrheit wird (Jesaja 44,25).
Weisheit, die mit Rechtsverdrehung, Lüge und Gottesverachtung einhergeht, ist keine Weisheit (Jeremia 8,8f):
Wie dürft ihr nur sagen: »Weise sind wird, haben wir doch das Gesetz JHWHs.« Ja, fürwahr, zur Lüge macht es der Lügengriffel der Schriftgelehrten! Zuschanden werden die Weisen, werden bestürzt und gefangen; denn sie verachten das Wort JHWHs. Was hätten sie da für Weisheit?
So wird als Kriterium wahrer Weisheit immer wieder JHWHfurcht hervorgehoben, eine Frömmigkeit, die mit der Barmherzigkeit und der Gerechtigkeit Gottes rechnet (Jeremia 9,23):
So spricht JHWH: Der Weise rühme sich nicht seiner Weisheit, der Starke rühme sich nicht seiner Stärke, der Reiche rühme sich nicht seines Reichtums, sondern dessen rühme sich, wer sich rühmen will: einsichtig zu sein und mich zu erkennen, zu wissen, daß ich, JHWH, es bin, der Gnade und Recht und Gerechtigkeit auf Erden übt; denn an solchen habe ich Wohlgefallen, spricht JHWH.
An diese weisheitskritische Tradition, die eine starke gesellschafts- und herrschaftskritische Komponente hat, knüpft in der Q-Tradition Jesus mit einer Seligpreisung der »Unverbildeten« (nepioi) an (Mattäus 11,25f; vgl. Lukas 10,21 und die Anlehnung an Weisheit 10,21):
Ich lobpreise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, daß du dies verborgen hast vor Weisen und Klugen und es enthüllt hast Unverbildeten. Ja, Vater, so geschah Wohlgefallen vor dir.
Wenn Paulus im ersten Korintherbrief mit mehr oder weniger wörtlichen Zitaten der genannten alttestamentlichen Texte den Gegensatz zwischen gelehrter Weltweisheit und der Verkündigung der Torheit des Gekreuzigten, die göttliche Weisheit ist, aufbaut, ist leider nicht auszuschließen, daß er ausgerechnet mit dieser Argumentation einzig seine eigene Autorität und Weisheit zu untermauern suchte und die Weisheit korinthischer Frauen zu diffamieren suchte. [11] Wie naheliegend es für die christlichen Gemeinden im ersten Jahrhundert war, in den alttestamentlichen Toren und Ungebildeten die Marginalisierten und Armen ihrer Gesellschaft zu erkennen, zeigt auch die in der Logienquelle überlieferte Gastmahlparabel, die an die Einladung der Gastgeberin Weisheit in Sprüche 9 anknüpft, wobei auf den Straßen nicht die Uneinsichtigen, sondern die (ungebildeten) Armen eingesammelt werden.
Die Option für eine feministische Weisheitstheologie, die bei den Ungebildeten der Welt ansetzt, kann und darf sich auf frühchristliche Traditionen berufen, aber auf keinen Fall auf Kosten der alttestamentlichen Weisheit insgesamt, die damit nur noch als Negativfolie für das weiterführend Christliche mißbraucht würde. Weisheitskritik hat ihre Ursprünge in Israel ähnlich wie von Anfang an die Korrumpierbarkeit des Prophetenamtes und das Auftreten falscher ProphetInnen thematisiert werden. Die biblische Kritik an der Weisheit der Weisen war nicht Sache einer über alles erhaben urteilenden und alle Maßstäbe setzenden Prophetie, sondern wurde wiederum von der Weisheit, auch der Weisheit der kleinen Leute, her formuliert. Nicht die Weisheit als solche wurde in Frage gestellt, sondern eine bestimmte, selbstgenügsame (männliche) Gelehrtenweisheit. Im Neuen Testament steht wenigen weisheitskritischen Gedanken eine Fülle positiver Rezeptionen von weisheitlichen Bildern, Gedanken und Traditionen gegenüber. Der synoptische Jesus geht in seinen Gleichnissen und Reden immer wieder von Alltagsbeobachtungen der Menschen aus. Er wird als Weisheitslehrer erlebt und als Bote der Sophia verstanden, bald einmal auch doxologisch, wiederum in engster Anlehnung an ältere biblische Weisheitskonzeptionen, als Weisheit Gottes bekannt. Auch Paulus rezipiert in 1Korinther 2,6ff die Weisheitschristologie der hymnischen Bekenntnisse ohne jede Kritik.
4. Weisheit und Gottesfurcht
Angelika Strotmann [12] hat als spezielles Problem der Logienquelle die Gerichtsworte, die sich gegen ganz Israel richten und antijudaistisch gelesen werden können, angesprochen. Sie zeigt selbst auf, wie mittels genauer Lektüre der alttestamentlichen Wurzeln dieser Gerichtsworte eine solche falsche Lektüre verhindert werden kann. Von der alttestamentlichen Weisheitstradition her ist es wenig erstaunlich, daß die Weisheit in den Q-Logien mehrfach mit Gerichtsgedanken verbunden erscheint. Sie tritt schon in den Proverbien (Sprüche 1) mit Gerichtsdrohungen auf, sie ruft zu einer Entscheidung, einem Ja zum Leben, das zugleich ein Nein gegen alle Nekrophilie ist (Sprüche 8,35f). Das mag schockieren, aber wie anders wäre die enge Verbindung von Weisheit und Gerechtigkeit ernstzunehmen, wenn nicht eine Verfehlung oder Mißachtung dieser Weisheit und das Ausschlagen ihrer an alle ergehenden Einladung auch Folgen hätte? Der Gott Israels und Jesu ist ein Gott der Barmherzigkeit und der Gerechtigkeit, ein Gott, der die Sonne über Guten und Bösen aufgehen läßt, aber dennoch die Stätten der Verbrecher in der Tradition des richtenden Sonnengottes Schamasch vernichtet. In diesem Sinn wird auch das Töten der heutigen BotInnen der Sophia das Gericht nicht verhindern. Biblische Gottesfurcht hat mit Angst nichts zu tun, sie ist vielmehr eine Lebenshaltung, die mit Gottes Wirkmacht in dieser Welt und Gottes kompromißloser Güte rechnet. Wenn das Erste Testament die Weisheit als Gerichtspredigerin auftreten läßt und nach Q die Königin von Saba als Zeugin »im Gericht mit den Männern dieses Geschlechts« (Lukas 11,31; Mattäus 12,42) aufersteht, so liegt in diesen Bildern eine Herausforderung an jede feministische Theologie, biblische Gottesbilder nicht in einer verharmlosenden Auswahl der bürgerlichen Religion verfügbar zu machen.
Meine Ausführungen unterstützen die These von Schüssler Fiorenza, daß feministische Weisheitstheologie nicht bei der Weiblichkeit der personifizierten Chokmah und deren Spuren in neutestamentlichen Texten stehenbleiben darf. Zwar ist die weibliche Rede von Gott-Christus-Sophia unverzichtbar, um die patriarchalen Ontologisierungen theologischer Sprache und die Verfestigungen unserer Gottesbilder aufzubrechen. Darüber hinaus aber ist eine kritische feministische Revision und Aneignung von Weisheitstraditionen überhaupt gefordert, die sich immer wieder auf die Frage der Gerechtigkeit zu beziehen hat und diese auch kritisch gegen sich selbst gerichtet und weiterhin zu richten hat. Dieser Bezug auf Gerechtigkeit ist nicht nur prophetisch und nicht spezifisch christlich, er ist wesentlich weisheitlich und alttestamentlich, darüber hinaus auch altorientalisch, was Grund genug ist, unseren Respekt vor antiken Religionen zu fördern.
Eine kritische feministische Revision weisheitlicher Texte hat deren Funktionalisierung für patriarchale Herrschaft, wie sie beispielsweise im Buch Jesus Sirach sehr offensichtlich ist, aufzudecken. Sie muß die weiblichen Subjekte als Sprecherinnen oder Empfängerinnen weisheitlichen Rates sichtbar machen, nach der Weisheit der israelitischen Frauen und ihrem Verstummen fragen, auch nach dem merkwürdigen Kontrast zwischen einer weiblich konnotierten ḥokmah und einem über männliche Autoritäten (Salomo, Vater) verlaufenden Tradierungsvorgang, wie er in verschiedenen großen Religionen zu beobachten ist. [13] Die Kritik an der »Weisheit der Weisen« ist immer Kyriarchatskritik, doch muß die weibliche Stimme dieser Kritik in den biblischen Texten und in unserem Alltag hörbar gemacht werden. Feministische Theologie hat darüber hinaus die Transformierung der damaligen Vorstellungen von einer gerechten Ordnung auf heutige, beispielsweise demokratische, Gesellschaftsordnungen zu wagen, die Aufmerksamkeit für die Schöpfung, die Tier- und Pflanzenwelt und das Alltagsleben von Menschen in die Mitte der Theologie zu rücken. Auf die biblische Weisheit können auch ökofeministische Ansätze zurückgreifen, um die tiefgreifenden Zusammenhänge des Unrechts im zwischenmenschlichen Bereich und der Schöpfungszerstörung sichtbar zu machen. Der Vorteil einer weisheitlichen Theologie gegenüber einer prophetischen ist, daß sie sich nicht auf die Offenbarungserfahrungen besonderer Menschen bezieht, sondern auf allgemein Erfahrbares. Weisheit wirbt mit Argumenten und Plausibilitäten, indem sie die für alle erfahrbare Wirklichkeit analysiert und daraus Folgerungen auf den Willen Gottes zieht. Weil sie auf religiöse Insidersprache verzichten kann, ist sie in besonderer Weise für interkulturelle und interreligiöse Dialoge geeignet, aus denen sie einst auch erwachsen ist.
[1] Vgl. dazu im folgenden Silvia Schroer, Die Weisheit hat ihr Haus gebaut. Studien zur Gestalt der Sophia in den biblischen Schriften, Mainz 1996; Elisabeth Schüssler Fiorenza, Jesus - Miriams Kind, Sophias Prophet. Kritische Anfragen feministischer Christologie, Gütersloh 1997; Athalya Brenner/Carole Fontaine (ed.), Wisdom and Psalms. A Feminist Companion to the Bible (Second Series), Sheffield 1998.
[2] Christl Maier, Die »fremde Frau« in Proverbien 1-9. Eine exegetische und sozialgeschichtliche Studie (Orbis Biblicus et Orientalis 144), Freiburg Schweiz/Göttingen 1995. Vergleiche Gerlinde Baumann, Die Weisheitsgestalt in Proverbien 1-9. Traditionsgeschichtliche und theologische Studien (Forschungen zum Alten Testament 16), Tübingen 1996.
[3] Angelika Strotmann, Weisheitschristologie ohen Antijudaismus? Gedanken zu einem bisher vernachlässigten Aspekt in der Diskussion um die Weisheitschristologie im Neuen Testament, in: Luise Schottroff /Marie-Theres Wacker (Hg.), Von der Wurzel getragen. Christlich-feministische Exegese in Auseinandersetzung mit Antijudaismus, Leiden u.a. 1996, 153-175.
[4] Luise Schottroff, WanderprophetInnen. Eine feministische Analyse der Logienquelle: Evangelische Theologie 51 (1991) 332-344 (englische Version: The Sayings Source Q, in: E. Schüssler Fiorenza (ed.), Searching the Scriptures, Vol. II, New York 1994, 510-534).
[5] Dorothee Sölle, Zwischen Patriarchat, Antijudaismus und Totalitarismus. Anmerkungen zu einer Christologie in feministisch-theologischer Sicht: Orientierung 56 (1992) 130-133.
[6] Zum Folgenden verweise ich auf den forschungsgeschichtlichen Teil in Othmar Keel/ Silvia Schroer, »Verdirb es nicht, ein Segen ist darin« (Jes 65,8). Biblische Versuche, die Welt als gelungene Schöpfung zu begreifen (erscheint 2000).
[7] Bedeutend war im deutschsprachigen Raum Hans Heinrich Schmid, Wesen und Geschichte der Weisheit (Beihefte zur Zeitschrift für Alttestamentliche Wissenschaft 101), Berlin 1966; derselbe, Gerechtigkeit als Weltordnung. Hintergrund und Geschichte des alttestamentlichen Gerechtigkeitsbegriffs, Tübingen 1968.
[8] So sehr pointiert auch Dorothee Sölle, Lieben und arbeiten. Eine Theologie der Schöpfung, Stuttgart 1985.
[9] Jan Assmann, Ma'at. Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im Alten Ägypten, München 1990; Schroer, aaO. 12-25; Klaus Koch, Sædaq und Ma'at. Konnektive Gerechtigkeit in Israel und Ägypten?, in: Jan Assmann u.a. (Hg.), Gerechtigkeit. Richten und Retten in der abendländischen Tradition und ihren altorientalischen Ursprüngen, München 1998, 37-64.
[10] Zitiert nach der Übersetzung von Helmut Brunner, Altägyptische Weisheit, Zürich/München 1988, 111 Z. 46-52.
[11] Vgl. ausführlich Antoinette Clark Wire, The Corinthian Women Prophets. A Reconstruction through Paul's Rhetoric, Minneapolis 1990, und Elisabeth Schüssler Fiorenza, zuletzt aaO. 225.
[12] Op.cit.
[13] Vgl. Sung-Hee Lee-Linke (Hg.), Ein Hauch der Kraft Gottes. Weibliche Weisheit in den Weltreligionen, Frankfurt a.M. 1999.
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Silvia Schroer (*1958),
katholische Theologin, ist Professorin für Altes Testament und Biblische Umwelt an der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Bern. Sie hat zahlreiche Bücher und Artikel zu Themen der altorientalischen Ikonographie Palästinas/Israels und der feministischen Exegese publiziert.
Ihre Anschrift: Ev.-Theol. Fakultät, Unitobler, Länggassstr. 51, CH-3000 Bern 9
© Silvia Schroer 2000, lectio@theol.unibe.ch, ISSN 1661-3317