Archive - Here you can find back issues of lectio.

02-2000

Luzia Sutter Rehmann Sexuelle Differenzen. Geschichten des Missbrauchs in den Apokryphen Apostelakten – Grundzüge einer Hermeneutik des Konflikts

Abstract:

Sexuality is the focus of numerous conflicts in the apocryphal Acts of the Apostles. But what does this really concern? How can sexuality be grasped both as a cultural phenomenon as well as a linguistic problem in these ancient texts? Arguing about sexuality does not necessarily mean rejecting or denigrating it. We must, however, develop an instrument that, with respect to conflict, recognises exactly who is speaking, what the situation is, and what the argument concerns. Thus we need a hermeneutic of conflict, which, analogous to the hermeneutic of suspicion, classifies the wealth of material that exists within the surrounding silence or argument. An examination of the narrative features shows that it is not about rejecting sexuality as such (in favour of religious asceticism, for instance), but about distinguishing when and how sexuality represents an attack on the body or the integrity of another person. Religion contributes in two ways to this 2nd/3rd century discourse on sexuality: first, it makes the discourse possible; and second, it is sensitive to situations of injustice related to sexuality.

Einführung

Die fünf ältesten apokryphen Apostelgeschichten (= AGG) sind Zeugnisse einer frühen christlichen Bewegung, die noch unabhängig von kirchlichen Hierarchien war. Meistens werden sie in einen Streit um die Legitimierung christlicher Lehrerinnen eingeordnet.[1] Hinter dem schriftlichen Text wurden von Virginia Burrus folk-stories und damit auch Traditionsträgerinnen identifiziert[2] . Stevan L.Davies stellte die These auf, die AGG seien von einer Gemeinschaft von Witwen erzählt worden. Er begründet dies damit, dass in diesen Geschichten die sexuelle Enthaltsamkeit von Frauen ein grosses Gewicht habe[3] , womit Davies die traditionelle Einschätzung der AGG als asketische Literatur zwar modifizierte, aber auch weiterführte. Wir befinden uns damit im Dickicht verschiedenster Vorstellungen, was Askese ist, wie es zu ihr kommen konnte, was sie wollte etc. und müssen auch nach der weiblichen Motivation für Askese fragen.

Nach eingehender Sichtung der Textbasis der AGG komme ich aber zum Schluß, dass wir einen anderen Zugang zu diesem Erzählmaterial gewinnen können. Wenn wir ernst nehmen, dass jeglicher Sexualitätsdiskurs ein kulturelles Produkt ist[4] , müssen wir eine hermeneutische Klärung anstreben, bevor wir in einen Diskurs um Askese, Enthaltsamkeit und Sexualität einsteigen können (1). Danach möchte ich die Erzählzüge der AGG genau sichten und kommentieren. Ich möchte insbesondere die am Sexualitätsdiskurs in den AGG beteiligten Personen zu Wort kommen lassen, sowie die Situationen, in denen dieser Diskurs stattfand, erkunden (2). Wenn wir den Befund auswerten, werden wir feststellen, dass wir mehr über Sexualität in den AGG erfahren können, als “ob man darf” oder nicht. Die AGG sind in den Rahmen eines Sexualitätsdiskurses zu stellen, der von der religiösen (jüdischen und frühen christlichen) Wahrnehmung von Unrecht wichtige Impulse erhielt. In ihnen wird versucht, Sexualität aus dem Bereich des Schweigens herauszuziehen und damit bestimmte Aspekte zu problematisieren und zu transformieren (3).

1. Schweigen ist Silber: Auf der Suche nach einer Hermeneutik des Konflikts.

1. Wer sich dem Themakreis um Sexualität der frühen Christinnen und Christen nähern will, muß sich mit der Frage auseinandersetzen, wie überhaupt über Sexualität geschrieben wurde. Was wurde thematisiert, was wurde als selbstverständlich und darum für nicht erwähnenswert vorausgesetzt? Was wurde verschwiegen? Aus welcher Perspektive wurde diese Auswahl getroffen? Welche Erfahrungen wurden in Worte gekleidet – und welche nicht? Diese Fragen betreffen die Quellenauswahl und Sexualitätskonzepte der ForscherInnen, aber auch die Perspektive der jeweils gewählten Quellen.

Doch viele mögen einwenden, daß wir nicht mit einer Kargheit der Quellen zu kämpfen hätten. Zu Sexualität äußern sich viele biblische Texte des Ersten und Neuen Testamentes, sowie zahlreiche jüdische und christliche Apokryphen. Wer erst einmal beginnt, nach Fragen der Sexualität Ausschau zu halten, wird sich vor einer Flut von Texten und Hinweisen kaum mehr wehren können.

Dennoch möchte ich hier einen großen Vorbehalt anmelden. Wenn wir diese Textflut genau studieren, merken wir bald, wie schwierig es ist, Rückschlüsse auf die gelebte Sexualität zu ziehen. Gesetzestexte sind keine Erfahrungsberichte, Predigten widerspiegeln nicht unbedingt den Alltag, den Abhandlungen über Jungfrauen von gelehrten Kirchenmännern stehen keine theologischen Korrekturen aus Frauenperspektive gegenüber. Religiöse (christliche und jüdische) Texte haben religiöse Intentionen. Aus ihnen erfahren wir stets, was aus religiöser Perspektive über Sexualität gesagt werden konnte. Juristische, medizinische, philosophische Texte haben alle ihre jeweiligen Intentionen, die mit der alltäglichen sexuellen Lebenspraxis vieler Menschen nicht kongruent sein mußten. Dazu kommt, daß die Mehrheit der zur Verfügung stehenden Quellentexte der ersten christlichen Jahrhunderte aus Männerhänden stammt.

2.Wir müssen also einige hermeneutische Überlegungen voranstellen. Texte auf Sexualität hin zu befragen, ist eine der feministischen Befreiungsarbeit von Frauengeschichte aus androzentrischer Sprach-Umklammerung durchaus vergleichbare Aufgabe. Deshalb können wir die Hermeneutik des Verdachts als Ausgangspunkt nehmen.

Judith Plaskow beginnt ihre Einführung in eine jüdisch-feministische Theologie mit der Reflexion über das Schweigen der Frauen in biblischen Texten. Obwohl die Hälfte der Juden Frauen waren, wurden ihren Erfahrungen nicht Ausdruck verliehen.

“Das Schweigen zu hören, ist nicht leicht. Ein so unermeßliches Schweigen neigt dazu, sich in der natürlichen Ordnung zu verlieren; es wird leicht mit der Wirklichkeit identifiziert.”[5]

Damit knüpft sie an die Hermeneutik des Verdachts an, wie sie von Elisabeth Schüssler Fiorenza formuliert wurde. Sie hat bezüglich der androzentrischen Perspektive auf Frauen festgestellt, daß Frauen nur erwähnt werden, wenn sie irgendwie “zum Problem” geworden sind oder wenn sie “eine Ausnahme” bzw. “etwas Besonderes” darstellen. Frauen in sogenannt normalen Situationen werden aber nicht erwähnt.[6] Androzentrische Sprache bezieht Frauen in der Regel mit ein, ist inklusiv, erwähnt sie aber nicht explizit. In biblischen Texten funktioniert diese inklusive Sprache genau so wie im heutigen Sprachgebrauch: Frauen werden nur dann erwähnt, wenn das Verhalten von Frauen als problematisch erscheint oder wenn von ganz außerordentlichen Ausnahmefrauen die Rede ist.[7] Darum hat feministische Exegese in den letzten Jahrzehnten ein Instrumentarium entwickelt, das versucht, diesem Auslassen von Frauen, dem Verschweigen ihrer kulturellen Beiträge, eine Frauengeschichte abzuringen.[8]

3. Eine Lektüre von Texten sollte diese möglichst vorurteilsfrei wahrnehmen. Insbesondere halte ich es für problematisch, den Text spekulativ bestimmten Herkunftskreisen der VerfasserInnen zuzuordnen. Wenn wir z.B. davon ausgehen, daß die AGG in manichäischen Kreisen[9] beheimatet waren, machen wir eine folgenschwere Entscheidung: Denn die Manichäer gelten als streng asketisch. Somit lesen wir alle Textstellen in Richtung Askese, ohne weiter zu prüfen, aus welcher Perspektive erzählt wird, in welchen Traditionen argumentiert und worüber geschwiegen wurde. Das kann zu einseitigen Verzerrungen führen. Doch gerade die AGG bieten eine große Fülle von Material, die hoffen läßt, daß nicht nur aus einseitiger Perspektive erzählt wurde. Wir können von Frauen und Männern lesen, von Aposteln und ihren Feinden, von enttäuschten Ehemännern und mutigen Gotteslehrerinnen. Einige dieser Stimmen sprechen auch über ihre sexuellen Erfahrungen, wie die anonyme, sehr schöne Frau, die mit lauter Stimme (phonen megalisten) ruft:

“Apostel des neuen Gottes, ... befiehl du, daß ich vor dich geführt werde, damit ich dir erzähle, was mir widerfahren ist, und ich vielleicht Hoffnung von dir erhalte.” ATh 42[10]

Doch diese schreiende Frauenstimme ist auch in den AGG eine Ausnahme. Kaum eine Frau erhebt ihre Stimme so mutig wie sie. In der Mischnah[11] (M.Ket. 7,6) können wir etwas über laute Frauen erfahren, was uns hellhörig werden läßt. Bei der Aufzählung von Frauen, die geschieden werden, ohne einen Anspruch auf ihre Ketuba machen zu können, werden auch Frauen genannt, die “gegen die jüdische Sitte” verstoßen. Dabei wird gefragt:

“Was ist unter jüdischer Sitte zu verstehen? Wenn sie mit entblößtem Haupte ausgeht, oder auf der Straße spinnt oder mit jedem Menschen sich unterhält. Abba Saul sagt: auch wenn sie seine Erzeuger in seiner Gegenwart schmäht. R.Tarphon sagt: auch eine Lautschreiende. Was ist unter Lautschreienden zu verstehen? Eine Frau, deren Stimme ihre Nachbarinnen hören, wenn sie in ihrem Haus redet.” (M.Ket. 7,6)

Dazu bemerkt der Herausgeber M.Petuchowski[12] :

“D.h. wenn sie mit ihrem Manne von dem ehelichen Umgang spricht, sei es, daß sie laut danach verlangt, sei es, daß sie ihn, wenn er sie dazu auffordert, laut zur Rede stellt und dadurch beschämt.”

Laut Petuchowski war also das laute Reden vor allem in sexuellem Zusammenhang für Frauen ein Scheidungsgrund. Petuchowski befindet sich im Einklang mit der Gemara des Babylonischen Talmuds zu dieser Stelle:

“R. Tarfon said: Also one who screams. What is meant by a screamer? Rab Judah replied in the name of Samuel: One who speaks aloud on marital matters. In an Baraitha it was taught: (By screams was meant a wife) whose voice during her intercourse in one court can be heard in another court. But should not this, then, have been taught in the Mishnah among defects? – Clearly, we must revert to the original explanation.” (BT Ket. 72b)[13]

Eine Ehefrau sollte also nicht über ihre Sexualität sprechen, weder zu ihrem Mann – sie könnte ihn beschämen - noch zu ihren Nachbarinnen. Nichts sollte aus den privaten vier Wänden dringen.

Ich habe die rabbinische Diskussion hier erwähnt, um die Außerordentlichkeit der Lautschreienden von ATh 42 zu zeigen. Eine parallele Lektüre von Mischna und ATh macht deutlich, wie selten wir mit sexuellen Erfahrungsberichten von Frauen oder schlicht mit lauten Frauen aus dieser Zeit rechnen können. Die rabbinische Diskussion zeigt uns, warum Frauen nicht laut werden sollten. Die Thomas-Akten aber sprechen von einer Ausnahmefrau, wie Elisabeth Schüssler Fiorenza deutlich gemacht hat: Wenn die androzentrische Sprache sich für die explizite Frauenstimme öffnet, dann weil dies ein Problem war, resp. eine absolute Ausnahme darstellte.

4. Wir können nicht auf das Auftreten solcher Ausnahmen warten. Wichtig ist es aber, eine Hermeneutik zu entwickeln, die analog zur Hermeneutik des Verdachts geeignet ist, die Fülle der Materialien einzuordnen in das sie umgebende Schweigen. Wenn wir von “Ausnahmefrauen” hören, müssen wir uns fragen, ob das, was dieser Frau passiert ist, wirklich eine Ausnahme darstellt, oder ob die Frau ein Tabu bricht, weil sie so laut geworden ist. Das heißt, es ist zu fragen, ob das, was sie erzählt, ein Ausnahmefall ist, oder ob es aussergewöhnlich ist, daß eine Frau etwas zur Sprache bringt von dem, was vielen widerfährt. Und was tun denn all diejenigen Frauen, die nicht laut werden? Schweigen sie – wie die Texte uns oftmals suggerieren – oder haben sie einen Ausdruck für ihre Not gefunden, den wir als InterpretInnen noch nicht entdeckt haben?

Wir haben ferner genau darauf zu achten, welche Konfliktparteien zu Worte kommen, resp. wer spricht: Wenn wir von Ehemännern lesen, die sich beklagen, ihre Frauen seien verführt worden, von Ehefrauen aber, ihre Ehemänner seien unerträglich – dann sollte es uns als InterpretInnen nicht darum gehen, zu entscheiden, wer Recht hat. Aber es ist nötig, mit einer Hermeneutik des Konflikts zu arbeiten, die sich Rechenschaft darüber ablegt, daß wir nur dank des Ehekonfliktes überhaupt etwas über die Sexualität dieser Menschen erfahren.

Wenn Sexualität in den AGG problematisch erscheint, müssen wir wissen, daß wir nur die aufgebrachten Stimmen hören. Die zufriedenen, glücklichen Eheleute sind still. Nur dank den Lautschreienden, den Aufgebrachten, erfahren wir, daß z.B. die Konversion einer Ehefrau sexuelle Probleme mit sich brachte – oder bestanden diese Probleme etwa schon früher und traten erst durch die Konversion zu Tage? Jedenfalls sehen wir in denAGG, daß die Konversionen von Ehefrauen (ohne ihre Männer) die Ehen in Krisen stürzten. Zu diesen gehörten auch sexuelle Konflikte. Oder bestand die Krise vor allem im sexuellen Konflikt, ja, bestand die Konversion vor allem in dem Wunsch der Ehefrau nach sexueller Abstinenz? Oder brachte die Krise diesen Wunsch hervor? Während die “mariages rompus”[14] und die Autonomiebestrebungen verheirateter Frauen schon einige Beachtung fanden[15] , wurde den ausserehelichen Konflikten um Sexualität noch nicht viel Aufmerksamkeit[16] geschenkt. Zudem werden Sexualität und Ehe in der Forschung oft gleichgeschaltet, wobei dann die aussereheliche Sexualität zum blinden Fleck der ForscherInnen zu werden droht.

5. Es ist daher notwendig, den Diskurs um Sexualität in den AGG daraufhin abzuhorchen, wer spricht und wer schweigt, worüber diskutiert wird, was benannt wird, in welchen Situationen Sexualität zum Thema wird und was genau aus dem Bereich der Sexualität thematisiert wird. Dazu müssen wir eine Hermeneutik des Konflikts entwickeln, die den Konflikten gegenüber dankbar ist, denn sie bringen das sonst Verschwiegene zutage, lassen das Selbstverständliche unselbstverständlich und damit thematisierbar werden. Eine Hermeneutik des Konflikts achtet also darauf, wie und wann ein Konflikt aufbricht, sowie aus wessen Perspektive erzählt wird. Doch setzt sie nicht nur auf literarischer Ebene ein (und befreit den Text damit aus androzentrischer Einseitigkeit), sondern sucht auch auf sozialgeschichtlicher Ebene nach Anhaltspunkten, die die Hintergründe und näheren Umstände der aufgebrochenen Krise verdeutlichen. Dazu gehören die juristischen Möglichkeiten der Konfliktlösung, sowie auch die religiösen Traditionen, die es Menschen in Notsituationen ermöglichten, über etwas zu sprechen, resp. ihre Not zu kommunizieren.

Eine Hermeneutik des Konflikts baut auf der Hermeneutik des Verdachts als Instrumentarium zur feministisch-kritischen Bibelinterpretation auf. Denn auch sie versucht, sowohl dem ausgesprochenen Problem wie dem weiterhin Verschwiegenen Rechnung zu tragen. Sie macht damit transparent, daß die in den AGG offensichtlich problematisierte Sexualität gerade durch ihre Problematisierung einen Weg aus den privaten vier Wänden herausfand. Diese Ueberlegung impliziert folgendes: Wir müssen nicht davon ausgehen, daß in der Welt der AGG Sexualität problematisch und damit negativ erschien. Eine solche Lektüre würde vorschnell zum Schluß führen, daß in den Herkunftsgemeinden antisexuelle, körperverachtende, asketische (etc.) Tendenzen vorherrschten. Gerade dieser voreilige Schluß kann mit der Hermeneutik des Konflikts umgangen werden. Wir können vielmehr damit beginnen, in der Problematisierung eine Bewältigung eines Tabus zu erkennen. Eine unproblematisierte Sexualität bleibt weitgehend unkritisierbar in der tabuisierten Sphäre des “Intimbereiches” und jeglicher kultureller, sozio-religiöser Transformation entzogen. Ich meine, in der Stimme der Aufgebrachten Spuren eines Aufbruchs zu finden, der in seiner religiösen Ernsthaftigkeit auch die privaten Gewohnheiten und intimen Verhaltensweisen umfaßte, der von einer grundsätzlichen Gestaltbarkeit der Beziehungen ausging sowie von einer Hoffnung auf die Befreiung, resp. Heiligung der Leiber.

2. Von Verzweiflung und Gewalt: Aussereheliche Konflikte um Sexualität

Ich konzentriere mich hier auf eine Besprechung der Erzählungen über aussereheliche Konflikte um Sexualität. Die Geschichten untersuche ich nach einem Erzählschema von vier Schritten zu ordnen, damit gemeinsame Züge hervortreten und meine Perspektive auf die Texte ersichtlich wird. Dadurch wird auch deutlich, dass von Sexualität innerhalb von Beziehungskonflikten erzählt wird. Da die Erzählzüge oft auseinandergerissen oder auch nur fragmentarisch überliefert sind, verzichte ich auf eine Wiedergabe des ganzen Wortlautes. Jede AGG werde ich einzeln betrachten, wobei jeder Erzählzug kurz zusammengefasst und kommentiert wird.

Schema:

  1. Schilderung des Konfliktes, der laut ausgetragen wurde.
  2. Eskalation des Konfliktes (Grenzüberschreitung)
  3. Weitere Eskalation
  4. Lösung des Konfliktes.

Anschließend an das Erzählschema werde ich Beobachtungen meinerseits anbringen, in denen ich den Fragen nachgehe,

  • wen wir sprechen gehört haben und wen nicht.
  • welche Grenzüberschreitungen geschehen sind.
  • wie Sexualität vorkommt, resp. was wir über sie erfahren.

In jeder AGG hat es mehrere in Frage kommende Episoden, die ich hier aus Raumgründen nicht alle besprechen[17] kann. Ich werde zwei Episoden der Akten des Johannes und je eine aus den übrigen Akten besprechen, damit wir sehen, dass dieses Thema nicht marginal auftritt.

1. Akten des Johannes[18] :

Ehebruch, Vatermord und Kastration (AJ 48-54):

1) Ein junger Mann wird von seinem Vater gemahnt, nicht die Ehe seines Arbeitskameraden zu brechen. Daraufhin erschlägt der junge Mann seinen Vater.

2) Der Apostel Johannes tritt zu ihm und spricht ihn an mit: “Bleib stehen, du ruchloser Dämon...”. Denn der Vatermörder eilt davon und will auch noch die Frau ermorden, um derentwegen er zum Vatermörder geworden war, samt ihrem Ehemann.

3) Der junge Mann beseitigt mit der Sichel nun seine Genitalien und läuft zum Haus, “in dem er die Ehebrecherin hatte”, und wirft sie ihr vor die Augen.

4) Johannes erweckt den Vater und tadelt den jungen Mann: “Der dir, junger Mann, eingegeben hat, deinen Vater zu töten und Liebhaber der Frau eines anderen zu werden, der hat dir auch als gerechtes Werk hingestellt, die lästigen (Glieder) zu beseitigen.” Johannes rät ihm, die verborgenen Quellen dieser Tat anzugehen, nicht die Werkzeuge dieser Tat.

Beobachtungen: Es sprechen der Vater, der junge Mann und der Apostel. Somit kommen ausschließlich Männer zu Wort. Der Vater ist es, der eine Grenzüberschreitung deutlich macht. Darum kommt es zum offenen Konflikt zwischen Vater und Sohn. Die Rede ist von Ehebruch, d.h. das Problem ist das Eindringen eines Mannes in die Ehe eines anderen. Sexuelle Handlungen werden nicht erwähnt. Der Vater, der versuchte, die Grenze zu hüten, wird vom Apostel gelobt. Der junge Mann, der Gewalt gegen sich und andere ausübte, wird vom Apostel getadelt. Der Apostel wendet sich nirgends gegen Sexualität, sondern gegen sexuelle Grenzüberschreitung wie Ehebruch und Gewaltanwendung (Vatermord, weitere Mordabsichten, Kastration).

Leichenschändung (AJ 63-76):

1) Kallimachos verliebt sich in Drusiana. Sie hatte ohne ihren Mann zur christlichen Gemeinschaft konvertiert, d.h. sie hatte sich von Andronikus losgesagt (später konvertierte auch er). Darum sagen auch einige zu Kallimachos, daß sein Vorhaben scheitern werde, denn: “Wenn sie nun ihrem Gebieter und Mann nicht die Zustimmung zum Umgang gegeben hat, sondern ihn dazu bewegte, die gleiche Gesinnung wie sie zu hegen, soll sie da mit dir übereinkommen, der du ihr Liebhaber werden willst?” Er gibt sein Vorhaben nach langem auf, verfällt aber in große Verdrossenheit.

2) Drusiana leidet daran, daß ihretwegen ein Mann zu Fall kommt. Sie fühlt sich mitschuldig und möchte sterben. Sie stirbt und wird in einer Grabkammer bestattet.

3) Kallimachos besticht einen Verwalter, damit er ihm die Grabkammer öffne. Beide, der Verwalter und Kallimachos, entkleiden den Leichnam, indem sie sagen: “Was hat es dir genützt, unglückliche Drusiana? Hättest du nicht, als du noch lebtest, dieses tun können, was dich schwerlich betrübt hätte, hättest du es freiwillig getan?” Doch eine Schlange tötet den Verwalter und windet sich um Kallimachos, so daß er hinfällt und (wie) tot ist.

4) Der Apostel Johannes und Andronikus erwecken Drusiana und Kallimachos. Kallimachos steht auf und gesteht seinen schändlichen Plan ein. Er erzählt auch von einer wunderbaren Erscheinung. Er nennt sein Vorhaben ein Unglück, schrecklichen Frevelmut, üble Gesinnung und beteuert, daß der alte Kallimachos gestorben sei, der Ungläubige, Zuchtlose, Gottlose: “Ich aber bin von dir auferweckt worden, der ich gläubig, gottesfürchtig sein will, der ich die Wahrheit erkennen will...”

Beobachtungen: Es sprechen die Freunde des Kallimachos und er selbst von Sexualität, ebenso der Verwalter. Es bleibt also ein Gespräch unter Männern. Dabei geht es um die sexuelle Schändung einer Toten. Die Tote wird entkleidet und verspottet. Dann interveniert die Kraft Gottes. Die tote Drusiana wird von Lichtstrahlen geschützt, der Verwalter von einer Schlange gebissen und Kallimachos fällt ohnmächtig um. Nach der Auferstehung kommentiert Kallimachos seine Tat als Gottlosigkeit. Dabei geht es aber deutlich nicht um eine Verurteilung von Sexualität, sondern um Leichenschändung. Der Wunsch / Wille der Drusiana kommt nicht deutlich zum Ausdruck. Sie bleibt auch in der Erzählperspektive zumeist Objekt, da über sie geredet wird.

Beide Erzählungen der AJ sind sehr massiv, ja erschreckend. Männliche Aggression steht im Vordergrund. Sowohl der Ehebrecher wie auch Kallimachos sind in Frauen verliebt, die ihnen entweder nach rechtlichen oder nach religiösen Kategorien verboten sind. In beiden Erzählungen erfahren wir von diesem Konflikt durch Männer (der alte Vater streitet mit dem ehebrecherischen Sohn; die Freunde versuchen, Kallimachos zur Vernunft zu bringen).

In der ersten Erzählung folgen dieser Grenzverletzung zwei weitere: der alte Vater, als Grenzhüter, wird getötet. Dadurch wird die Eskalation der sexuellen Aggression zur Gewalt, die vor nichts zurückschreckt . Die Eskalation betrifft auch den Täter selbst, der sich verstümmelt. Die Einschätzung, daß “die Genitalien” die Übeltäter waren, die das Unglück hervorriefen, wird aber verurteilt. Das Kastrieren ist nur eine weitere Gewalttat, immer noch von (verzweifelter) sexueller Aggression geleitet. Auch Kallimachos läßt seiner Aggression freien Lauf. Nach dem Tod Drusianas hält ihn nichts mehr zurück. Er pervertiert seine Leidenschaft, indem er sie an einer toten Frau ausleben möchte. Damit verletzt auch er ein Tabu.

Im Kontrast zu der eskalierenden männlichen Aggression erscheinen die betroffenen Frauen völlig passiv. In der totalen Passivität der toten Drusiana zeigt sich die Rolle, in die männliche sexuelle Aggression Frauen zwingen kann. Drusiana wollte sich nicht mit Kallimachos einlassen. Denn Kallimachos hatte nicht dieselbe “Gesinnung” wie die christliche Drusiana, die seinetwegen krank wurde und starb. Er wird also Ursache für ihr Leiden und Tod. Als Tote hat sie aber noch keine Ruhe vor ihmDrusiana erscheint als konfliktscheu und flieht in den Tod, sie wird aber von Gott und Christus zurück ins Leben geschickt.

Die Rolle der ehebrecherisch geliebten Frau der ersten Geschichte ist vage. Sie hat keinen Namen, kein Gesicht, keine Stimme. Sie ist schlicht “die Frau des anderen”. Der Ehebrecher geht nach seiner Verstümmelung zu dem Haus “in dem er die Ehebrecherin hatte”. Sie ist nicht einmal in ihrem Haus grammatikalisches Subjekt. Mittäterschaft scheint hier eine nicht angebrachte Kategorie, da nirgends ein Tun der Frau in Sicht gerät. Sie erhält einen Objektstatus, der dem des Opfers am nächsten kommt. Dennoch wird sie mit “Ehebrecherin” bezeichnet. Dadurch erscheint sie für den üblen Zustand des Mannes zumindest mit-verantwortlich. Auch Drusiana fühlte sich mitverantwortlich für den Zustand ihres Verehrers. Sie wurde ja deswegen krank, weil sie zum Anstoß geworden war. Die “Ehebrecherin” erhält ihren Namen durch die Grenzüberschreitung des Mannes.. Der kastrierte Mann wirft ihr seine blutigen Organschnipsel vor die Augen. Ich halte diese Tat für in sich grausam und gewalttätig auch gegenüber dieser Frau.

Beide Geschichten entlarven männliche sexuelle Gewalt, die skrupellos ist gegenüber den involvierten Frauen und Männern, sowie den gesellschaftlichen Tabus/Grenzen gegenüber. Die Frauen wehren sich nicht offen gegen diese sexuelle Aggression. Sie ziehen sich ins Haus, resp.in Krankheit und Grabkammer zurück. Sie erscheinen sowohl auf inhaltlicher, wie auch sprachlicher Ebene passiv, völlig ohnmächtig - tot.

Doch die Kraft Gottes schickt Drusiana zurück ins Leben, gibt ihr eine aktive Rolle, eine Aufgabe. Sie soll als strahlende Gotteslehrerin wirksam werden. . Diese Geschichte zeigt, daß Frauen sich nicht totstellen sollen oder können – weil Gott es nicht will.

Der Kastrat wird getadelt, weil er nicht die Quellen des Übels erkannte und beseitigte, sondern die Werkzeuge seiner Tat für die Tat verantwortlich machte. Folgerichtig wäre auch diese Verurteilung gegenüber der Haltung der “Ehebrecherin” anzuwenden. Denn nicht sie ist verantwortlich für die Tat, höchstens Werkzeug - und durch diese Instrumentalisierung selbst ein Opfer.

2. Akten des Andreas[19] :

Die Sex-Sklavin Eukleia (AA 17-22):

1) Die sehr gut aussehende junge Sklavin, Eukleia, wird von der Matrone Maximilla angeheuert, um ihr in ihren Ehenöten zu helfen. Eukleia soll Maximilla sexuell bei ihrem Gatten vertreten und dafür alles erhalten, was sie bedarf.

2) Nach acht Monaten bittet Eukleia um die Freiheit, die ihr Maximilla auch sofort gewährt. Danach verlangt Eukleia aber noch Geld, Gewänder, Schleier, Schmuckstücke und prahlt bei ihren MitsklavInnen.

3) Eines Nachts führt sie die SklavInnen zu Aegeates und legt Gegenstände neben ihn. Er aber meint, Maximilla neben sich zu haben.

4) Nachdem Eukleia verraten wurde, wird sie gefoltert. Aegeates läßt ihr die Zunge herausschneiden und befiehlt, sie hinauszuwerfen, so daß sie den Hunden zum Fraß wird. Drei andere SklavInnen, die weitererzählt hatten, was Eukleia ihnen überbrachte, werden gekreuzigt.

Beobachtungen: Maximilla spricht von der ehelichen Sexualität nur vage, indem sie Eukleia anweist, wie sie sich hinzulegen und wie sie sich loszumachen habe, um danach in ihr eigenes Zimmer zu gehen. “Denn dies war der Brauch der Maximilla.” Daß Maximilla Eukleia involviert, ist bereits Folge eines Ehekonfliktes. Obwohl uns Maximilla als Urheberin des Elends von Eukleia erscheint – denn sie zog die Sklavin in den Konflikt hinein – wird sie im Text nicht so dargestellt. Sie beschenkt Eukleia über die vereinbarte Bezahlung hinaus und ist auch zu den anderen SklavInnen großzügig. Die Gewalt geht vom Ehemann aus. Gerade die unangefochtene Legitimität seiner Folter und seiner Todesurteile läßt die Gewalttätigkeit als selbstverständlich erscheinen. Im Erzählzug läßt sich keine gute Wende für Eukleia und die SklavInnen ausmachen. Die Gewalt eskaliert bis zum bitteren Tod.

Es erscheint als eine Ironie der Erzählung, daß Aegeates während acht Monaten nicht nur nicht wahrnimmt, mit wem er schläft, sondern sich auch noch durch Gegenstände täuschen läßt. In diesem Sinn macht er sich lächerlich, resp. die Frauen zeigen, wie Aegeates seine eheliche Sexualität lebt. Diese Entlarvung ruft den tödlichen Zorn des Aegeates hervor. Aegeates verteidigt seine Ehre mit nackter Gewalt. Aber er merkt acht Monate lang nicht, mit wem er schläft und daß nur “Gegenstände” neben ihm liegen!

Wie wird Sexualität hier dargestellt? Als verbunden mit männlicher Ehre, die zu verletzen tödlich enden kann, als ersetzbar, austauschbar, was den Part der Frauen betrifft. Tödlich erscheint aber nicht die Sexualität, sondern das Entlarven der Sexualität des Ehemannes. Aus dem ehelichen Schlafzimmer hätte nichts nach außen dringen dürfen. Das Schweigetabu wurde von der Ehefrau gebrochen und - schlimmer noch - von Sklavinnen. Dafür zahlen diese mit dem Leben.

3. Akten des Paulus und der Thekla[20] :

Sexuelle Belästigung (APl 26-28)

1) Auf offener Straße wird Thekla von Alexander, einem vornehmen Antiochener, umarmt. Alexander hatte sich zuerst versichert, daß Paulus keine Ansprüche auf Thekla stellte. Paulus sagte: “Ich kenne die Frau nicht, von der du sprichst; sie ist auch nicht mein.”

2) Doch Thekla wehrt sich: “Tue nicht einer Fremden Gewalt an, tue nicht der Magd Gottes Gewalt an!”

3) Da er nicht auf sie hört, zerreißt sie sein Gewand und schleudert seinen Kranz vom Kopf und macht ihn zum Gespött.

4) Dennoch gelingt es ihm, ihrer habhaft zu werden: Er führt sie zum Statthalter und verurteilte sie zum Tierkampf. Ihre Schuld lautet: Tempelräuberin.

Beobachtungen: Eine Frau, die keinem Mann gehört, wird auf offener Straße sexuell bedrängt. Der Konflikt ist kein Konflikt zwischen Männern. Vielmehr geht es um das Recht, das den reichen Mann schützt, aber nicht die Frau von der Straße. Ihr Widerstand wird als Verletzung der heiligen Ordnung gewertet. Sie, das Opfer eines sexuellen Übergriffs, wird verurteilt zum Tierkampf in der Arena. Beate Wehn verweist in diesem Zusammenhang auf das römische Strafrecht, auf Grund dessen Alexanders Übergriff durchaus hätte geahndet werden können[21] .Die Begründung “Tempelschänderin” bezieht sich auf ihren Widerstand auf offener Straße, als sie dem vornehmen Alexander den Kranz vom Kopf zerrte[22] . So ist die Kritik des Textes nicht gegen das römische Strafrecht gerichtet, sondern gegen die Begünstigung freier Männer, die sich selbst offenbar ausserhalb der Reichweite des Gesetzes wähnen, dasselbe aber gegen andere anwenden! Getragen wird der Verlauf der weiteren Bedrohungen Theklas von großer Frauensolidarität, die sich in Opposition zum vornehmen Alexander und dessen Rechtsprechung setzt.

Sexualität wird hier über die Männer privilegierende Auslegung des Gesetzes problematisiert. Wenn eine Frau keinem Mann gehört, dann kann sie jeder haben, so scheint die Maxime Alexanders gelautet zu haben. Daß dies nicht unwidersprochen war, haben Thekla und viele Frauen in der Arena deutlich gemacht. So sind diese Erzählungen von Theklas Bedrohung und Widerstand als eigentlicher Geschlechterkampf zu lesen. Doch wird nicht um Sexualität gestritten, sondern um das Recht der Integrität, des Widerstandes auf der Frauenseite und auf das Recht, das Gesetz nach eigenem Gutdünken auszulegen und sich Frauen zu unterwerfen auf Männerseite.

3. Akten des Thomas[23]

Eine Mißbrauch-Geschichte (ATh 42-49):

1) Eine Frau ruft den Apostel Thomas mit lauter Stimme herbei. Sie erzählt, daß sie seit fünf Jahren gequält wird. “Als Frau saß ich früher in Ruhe, und von allen Seiten umgab mich Friede, und ich sorgte um nichts”. Doch eines Tages sprach sie ein Mann an, der mit ihr “wie ein Mann mit seiner Frau verkehren” wolle. Sie will aber nicht: “Mit meinem Verlobten habe ich keinen Verkehr gehabt, weil ich die Heirat ablehnte, und wie sollte ich mich dir ausliefern, der du wie im Ehebruch mit mir zusammen sein willst?”

2) Aber in der Nacht kam er und “pflegte seinen schmutzigen Verkehr mit mir...In der ihm verwandten Nacht aber kam er und mißbrauchte mich.”

3) Sie bittet Thomas, sie von diesem Dämon zu befreien. Der Feind kommt selbst und nimmt schließlich Abschied: “Ich lasse dich, meine schönste Gemahlin, die ich gefunden und bei der ich ausgeruht habe. Ich verlasse dich, meine geliebte, zuverlässige Schwester, an der ich Wohlgefallen hatte...” Er löst sich in Feuer und Rauch auf.

4) Die Frau bittet aber nach dem Handauflegen und dem Segen darum, versiegelt zu werden: “Apostel des Höchsten, gib mir das Siegel, damit jener Feind sich nicht wieder zu mir wende!” Thomas tut dies. Danach feiern sie Eucharistie.

Beobachtungen: Wir finden hier die einzige Geschichte, in der eine Frau von sich aus einen Konflikt offen legt (s.o.). Fünf Jahre lang schwieg sie und ertrug den nächtlichen Mißbrauch durch einen “Dämon”. Jetzt sieht sie eine zuverläßige Hilfe in der Person des Apostel Thomas und der Aufnahme in die christliche Gemeinschaft. Sie erzählt, daß sie von einem Mann nach dem Baden belästigt wurde. Hier geht es einerseits um diese sexuelle Belästigung als Übergriff, andrerseits fasst die Frau dies auch als Verstoß gegen die Eheordnung auf, denn sie ist nicht mit diesem Mann verheiratet und wird so in ihrem Wert (Selbstwert/Fremdeinschätzung) vermindert (“wie im Ehebruch mit mir zusammensein”). Die Frau wird dennoch von diesem Mann aufgesucht und mißbraucht. Er scheint sie als Gemahlin zu lieben, doch geschieht dies gegen ihren Willen. Interessant ist die Verbindung von Dämon und Mensch: heißt es zuerst deutlich, daß ein Mensch sie angesprochen habe und ein Mann sie nächtlich aufgesucht hat, treibt dann Thomas dennoch einen Dämonen aus, der sich in Rauch auflöst. Dies scheint eine Heilung des missbrauchenden Mannes darzustellen. Hier verläuft das Erzählschema denn auch anders. Dies ist keine Konfliktgeschichte, die weiter eskaliert und sich erst am Ende auflöst. Die Auflösung des Konflikts beginnt da, wo die Frau den Apostel laut ruft, so daß auch der “Feind” herbeikommt und geheilt werden kann. Die Taufe und Eucharistiefeier in der Gemeinschaft drücken die Rettung der Frau vor dem jahrelangen Mißbrauch aus.

Die konsequente Eigeninitiative dieser Frau ist im Vergeich mit den anderen AGG aussergewöhnlich, findet sich aber durchwegs in der ATh (siehe ATh 5-16: Die hebräische Musiksklavin steht auf und zerbricht ihre Flöte aus Erkenntnis und Liebe; ATh 51-58: Die ermordete Herbergsgeliebte steht aus dem Tod auf, nachdem sie aus eigener Erfahrung zu Gott gefunden hat).

Wenn Sexualität jemandem aufgezwungen wird, wie in der Mißbrauchsgeschichte, muß der “Dämon”, der grenzverletzend und unmenschlich handelt, ausgetrieben werden. Ebenso lehnt der Apostel das Aufzwingen des männlichen Besitzanspruches über die Frau als falsche Interpretation der Reinheitspredigt (51-58) ab. So scheint nicht Sexualität an sich abgelehnt zu werden, wohl aber ein grenzverletzendes männliches Verhalten, das mit Sexualität Ausbeutung, Mißbrauch und Dominanz verbindet.

4. Akten des Petrus[24]

Versuchte Entehrung eines armen Mädchens(APt 128-140):

1) Petrus wird darauf angesprochen, warum er seine eigene Tochter nicht heile. Ihre eine Seite ist ganz gelähmt “und sie liegt verkrüppelt dort im Winkel.” Petrus erzählt, daß das Mädchen, als es zehn Jahre alt geworden war, vielen zur Anfechtung wurde.

2) Ein reicher Mann, Ptolemäus, hatte das Mädchen mit seiner Mutter baden sehen. Sogleich schickte er nach ihm, um es zu seiner Frau zu nehmen. Doch seine Mutter war nicht zu überreden. (Textlücke)

3) Die Leute des Ptolemäus bringen das Mädchen zurück, legen es vor die Türe und gehen fort. Die eine Seite des Mädchens war von seinen Zehen bis zu seinem Kopfe gelähmt und verdorrt. “Wir trugen es fort, indem wir den Herrn priesen, der seine Dienerin vor Befleckung und Schändung und... bewahrt hat.”

4) Doch auch Ptolemäus ging in sich, trauerte über das, was ihm geschehen war, und wurde blind. Er besucht nun Petrus und wird christlich. Petrus beschließt diese Erzählung: “Gott sorgt für die Seinigen und bereitet einem jeden das Gute, wir aber denken, daß Gott uns vergessen hat. Jetzt nun, Brüder, laßt uns trauern, wachsam sein und beten, und die Güte Gottes wird auf uns blicken, und wir warten auf sie.”

Beobachtungen: Wir erfahren diese Geschichte ausschließlich aus der Perspektive von Männern. Das Mädchen und seine Mutter bleiben stumm. Zudem erfahren wir auch wegen der Textlücke nicht, ob es zu sexuellen Handlungen kam und was genau mit dem Mädchen geschah. Doch ist die Sexualität des Mädchens Anlaß für dessen Entführung, resp. das soziale Gefälle zwischen dem reichen Ptolemäus und dem armen Petrus. Es ist eine traurige Geschichte, denn das Mädchen erhält keine neue Chance, aufrecht zu gehen und am Leben aktiv teilzunehmen. Petrus beschließt nicht mit Jubel seine Erzählung, sondern mit Trauer und Warten auf Gott. Das Mädchen wurde sehr wahrscheinlich entführt. Ihre schlagartige Erkrankung bewahrte sie vor “Befleckung” und “Schändung”. Petrus versteht ihre Krankheit daher als Form des Widerstandes, der von Gott ermöglicht wurde. Das soziale Gefälle zwischen Ptolemäus und Petrus ist stark betont. In dieser ungerechten Welt ist Krankheit offenbar der wirksamste Schutz eines armen Mädchens davor, sexuell ausgebeutet zu werden.

Neben der Geschichte der Tochter des Petrus finden wir auch diejenige der vier Konkubinen (APt, in: Schneemelcher 1989, 285-286). Beide sind nur fragmentarisch überliefert. In beiden scheinen soziale Marginalisierungen den Grundton abzugeben. Der reiche Ptolemäus nimmt sich das kleine Mädchen unbedeutender Eltern, der vornehme Agrippa leistet sich vier Konkubinen[25] . Beide Geschichten erzählen nicht von einem guten Ausgang: Das Mädchen bleibt krank und der Vater Petrus traurig, die Konkubinen haben viel von Agrippa zu erleiden und Petrus wird von ihm gekreuzigt. Es sind Widerstandsgeschichten innerhalb einer ungerechten Welt. Die Verweigerungstrategie der Konkubinen wird als Ausweg dargestellt, wie auch die Krankheit des Mädchens. Positive Lebensmöglichkeiten (Feiern, Jubeln, Reisen, Essen etc.) werden hier nicht erzählt. Das unterstreicht den Charakter dieser Episoden als Geschichten während einer Bedrohungssituation oder politischer Marginalisierung.

3. Auswertung und Zusammenfassung:

In den Konflikten um Sexualität erfahren wir Einzelheiten, die uns zum Hintergrund des Konfliktes führen. Die Erzählungen sind geprägt von einem Verständnis um die Problematik der Geschlechterrollen, der sozialen Unterschiede und von einer Verurteilung von Gewalt und Mißbrauch. Ein durchgehendes Thema ist sexuelle und soziale Grenzüberschreitung.

1. Grenzüberschreitungen und Gewalt: In den Akten des Johannes erfahren wir von sexuellen Grenzüberschreitungen. Diese bestehen in (beabsichtigten) Ehebruch, Mord, Kastration, Leichenschändung. D.h. aus einer Verletzung der sozial gesetzten Grenze folgen weitere Überschreitungen. Das antreibende Prinzip scheint dasjenige der männlichen sexuellen Aggression zu sein, die sich nicht durch soziale Grenzen bändigen lassen will.

In den Akten des Andreas wird die schmerzhafte Geschichte von Eukleia erzählt, die in den Ehekonflikt von Maximilla und Aegeates involviert wurde. Es fehlt eine “christliche Wende” des Dramas: die Sklavin wird samt drei MitsklavInnen getötet, ohne Auferstehung oder christliche Kommentierung. Ursache des Dramas ist die verletzte Ehre des Aegeates. Es wäre nichts passiert, wenn Eukleia die sexuellen Geheimnisse nicht preisgegeben hätte. In der Geschichte scheint das Sprechen über männliche Sexualität tödliche Konsequenzen zu haben. Aegeates bestraft nicht die List seiner Gattin, sondern das Ausplaudern der Sklavin. Somit ist dies die Episode eines Tabubruches: aus den privaten vier Wänden des Ehepaares hätte nichts bekannt werden dürfen. Fehlt die christliche Wende, weil der Text verstümmelt überliefert wurde? Oder enthält sich die christliche Perspektive einer Kommentierung, weil die Lage so kompliziert erscheint? Denn was soll verurteilt werden: das Ausplaudern der Sklavin oder die List der Gattin, die tödliche Gewalt des Ehemannes oder seine sexuelle Indifferenz, die den Ersatz seiner Frau nicht merkt, der die Frau aber, die er acht Monate lang nächtlich liebte, schonungslos verstümmelt? Für aufmerksame LeserInnen spricht die Geschichte für sich, indem sie das Ausgeliefertsein der SklavInnen memoriert und die unzuverlässige Hilfe der Herrin.

In den Akten des Paulus und der Thekla wird von der Verletzung der patriarchalen Ordnung erzählt, die zur Verurteilung Theklas führt. Der Protest zahlreicher Frauen zeigt an, daß mit der Erinnerung an diese Verletzung auch Widerstand verbunden wurde. Insofern ist hier christliche Kommentierung implizit vorhanden. Hier wird Sexualität im patriarchalen Kontext problematisiert, d.h. vor allem die ungerechte Rechtssprechung freier Männer.

Auch in den Akten des Petrus scheint es keinen rechtlichen Schutz für die Tochter des Petrus wie für die vier Konkubinen gegeben zu haben. Der reiche Ptolemäus holt sich, was er will. Der Klassenunterschied der beiden Männer läßt Petrus ohnmächtig erscheinen. Das Mädchen wehrt sich gegen seine Entführung durch eine Krankheit. Die Grenzüberschreitung des Ptolemäus ist offensichtlich. Durch die Bekehrung des Ptolemäus erfährt die Geschichte zwar eine Wende – doch ist es vor allem die Interpretation des Petrus, die eine Wende in der Perspektive einführt: Gott hat mit der Krankheit geholfen. Von nun an will kein Mann mehr das Mädchen entführen, sie sich unrechtmäßig aneignen. Darum heilt Petrus auch seine Tochter nicht. Dahinter wird die Gefahr deutlich, die die Armut oder Marginalisierung eines Mädchens in “dieser Welt” mit sich bringen konnte.

Die Akten des Thomas schildern Konflikte um Sexualität m.E. mit der größten Differenziertheit. Die Erzählung der Lautschreienden betont die persönliche Integrität der Frau. Der dämonische Liebhaber liebte sie auf seine Weise, denn er spricht zärtlich von ihr. Doch sie empfand sein Verhalten als Mißbrauch. Die christliche Kommentierung steht hinter der Frau. Der “Dämon”, der sie mißbrauchte, muß gehen. Sie wird geschützt (“versiegelt”) und in die Gemeinde aufgenommen.

2. Gender politics: Wenn wir genderspezifisch fragen, wer Opfer und wer TäterIn in den meisten sexuellen Konflikten ist, erhalten wir eine eindeutige Antwort: die Frauen zeichnen sich durch Passivität aus. Maximilla instruiert ihre Ersatzfrau, wie sie sich hinzulegen hat für ihren Mann. Drusiana stirbt statt zu kämpfen, noch im Tod droht sie ein Opfer männlicher Gewaltausübung zu werden. Die Tochter des Petrus ist Opfer einer Entführung und wird gelähmt, was auch ihre soziale Ohnmacht widerspiegelt. Die Sklavin Eukleia wird getötet. Der junge Mann der AJ beabsichtigt seine ehebrecherisch geliebte Frau zu ermorden, nachdem er alles für verloren hält. Hingegen scheinen Männer weniger in einer Opferrolle dargestellt zu werden. Männliche Opfer finden wir bezeichnenderweise unter den MitsklavInnen der Eukleia[26] und im alten (!) Vater des Kastraten, sowie schließlich im Apostel Petrus. Frauen werden jedoch generell als passiv, im Objektstatus und als Opfer dargestellt zu werden. Die Gewalt geht von Männern aus, ebenso die sexuelle und soziale Grenzüberschreitung.

Die Erzählperspektive ist meistens eine männliche. Nur in den ATh finden wir Frauen, die auf eigene Initiative handeln und erzählen. In den AJ ist die ehebrecherische Frau unsichtbar, Drusiana leidend, tot und stumm[27] . In den APt sind von der Mutter und der Tochter des Petrus keine Worte überliefert, ebensowenig von den Konkubinen. In den AA wird gerade das Sprechen zum Verhängnis: Maximilla instruiert Eukleia bezüglich ihrer ehelichen Sexualität, dadurch wird Eukleia mit hineingezogen. Eukleia spricht wiederum von ehelicher Sexualität, was ihr und den Mitwissenden zum Verhängnis wird. In den Akten des Paulus und der Thekla hören wir Thekla ihren Standpunkt erklären, als Alexander sie vergewaltigen möchte. Doch wird ihren Worten kein Gehör geschenkt. So erscheint die männliche Perspektive unangefochten, während die weibliche Perspektive kaum zum Zuge kommt, da das weibliche Sprechen über Sexualität gefährlich ist. Einzig in den Akten des Thomas ist weibliches Erzählen positiv dargestellt und geradezu lebensrettend. Dies zeigt jedoch, dass in den AGG weibliches Sprechen über Sexualität problematisiert wird. Entweder findet es nicht statt oder ist lebensgefährlich oder rettend. Dank diesen Geschichten kann eine Reflexion und damit eine Bewältigung eines Tabus in Gang kommen.

3. Positiv ist aus einer Analyse der außerehelichen Sexualitätskonflikte zu schließen, daß die Ehe als heilige Ordnung angesehen wird, die nicht überschritten werden sollte. Ehebruch ist der Anfang von zahlreichen Übeln. Doch vor dem Hintergrund einer gegenüber Sexualität eher ablehnenden Auslegungsgeschichte christlicher Texte ist es auffallend, daß es vor allem der Aspekt der Grenzziehung ist, das Akzeptieren von sozialen Grenzen und Ordnungen, der an der Ehe geschätzt wird. D.h. unrechtmäßige, unkontrollierte Leidenschaft ist ein Problem, nicht Liebe oder sexuelle Leidenschaft an und für sich.

Ferner erkenne ich eine Wertschätzung der persönlichen Integrität der Frauen aus diesen Geschichten. Ihr Kampf um ihr Recht auf sexuelle Selbstbestimmung, auf die Respektierung ihres Willens wird von den AGG unterstützt.

  • So wird Maximilla nicht kritisiert, daß sie sich vom verhaßten Ehemann distanzieren will. Sie wird als großzügig, ihrem Versprechen treu und zusätzlich generös dargestellt.
  • Die Lautschreiende erhält Gehör und Verständnis und wird in die Gemeinschaft aufgenommen.
  • Christus schützt den Todesschlaf der Dursiana vor sexueller Schändung und schickt sie ins Leben zurück.
  • Die kranke Tochter des Petrus leistete mit ihrer Krankheit Widerstand gegen den sexuellen Übergriff des Ptolemäus. Petrus respektiert ihre Form des Widerstandes und heilt sie nicht, da die Umstände sie wieder in Probleme bringen könnten. Ihre Entscheidung wird in diesem Sinn von ihm akzeptiert.
  • Theklas Widerstand gegen Alexander wird von den Frauen unterstützt.

Interessant ist auch, daß ein Gespür für soziales Unrecht vorhanden ist. Vor allem in den Akten des Paulus und der Thekla wird deutlich, daß der reiche Alexander sich an der fremden Thekla vergreifen kann, ohne daß er rechtlich belangt wird, ebenso ist es bezüglich des reichen Ptolemäus und der Tochter[28] des Petrus. Auch das Konkubinatsverhältnis bedeutet für die Frauen Abhängigkeit und rechtliche Diskriminierung. Wenn sich die vier Konkubinen entschließen, aus diesem Verhältnis auszusteigen, ist dies kein Entschluß zur sexuellen Askese! Die rechtlich ungeschützte Stellung der SklavInnen wird im Hausdrama der Maximilla offenkundig. Unter diesem Gesichtspunkt müssen wir auch die Ermordung der Herbergsgeliebten (ATh 51-58) einordnen, die durch die Ausübung ihres Berufes zu den infamen Frauen gehörte.[29]

Das Erzählen solcher Geschichten konnte bisher Unausgesprochenes aufdecken, so dass festgefügte Verhaltensregeln brüchig oder zumindest bedenkenswert erschienen. Die These Foucaults “Wenn der Sex unterdrückt wird, wenn er dem Verbot, der Nichtexistenz und dem Schweigen ausgeliefert ist, so hat schon die einfache Tatsache, vom Sex und seiner Unterdrückung zu sprechen, etwas von einer entschlossenen Überschreitung.”[30] – erhält dadurch eine andere Akzentuierung: Wenn Sex unterdrückend ist, wenn darüber zu sprechen, gefährlich ist, so hat die Tatsache, solche Geschichten wie in den AGG zu erzählen, etwas von einer entschlossenen Überschreitung – die sich nicht nur in den Reinheitspredigten der christlichen Apostel zeigt, sondern auch und sehr eindringlich in den Erzählzügen, in denen es um sexuelle Differenzen geht. Wo aber gestritten wird, gilt es allen in den Konflikt Involvierten zuzuhören, auch den sprachlosen, zum Verstummen gebrachten Personen. Dadurch können wir eine Anstrengung zur Befreiung der sexuellen Beziehungen von patriarchalen Dominanz- und Unterwerfungsmustern wahrnehmen, die ich für einen positiven christlichen Beitrag zum Sexualitätsdiskurs halte.

 

[1] Dennis R. MacDonald, “Virgins, Widows, and Paul in Second Century Asia Minor”. In: Seminar Papers, Society of Biblical Literature 1979, 169-184.

[2] Virginia Burrus, “Chastity as Autonomy: Women in the Stories of the Apocryphal Acts, in: Semeia – an Experimental Journal for Biblical Criticism 38/ 1986 (101-117).

[3] Stevan L. Davies, The Revolt of the Widows. The Social World of the Apocryphal Acts. Southern Illinois University Press 1980.

[4] D. Boyarin, “Are There Any Jews in the History of Sexuality?”, in: Journal of the History of Sexuality 5.3 (1995), 333-355.

[5] Judith Plaskow, Und wieder stehen wir am Sinai. Eine jüdisch-feministische Theologie. Exodus: Luzern 1992, 25.

[6] Elisabeth Schüssler Fiorenza, Zu ihrem Gedächtnis... Eine feministisch-theologische Rekonstruktion der christlichen Ursprünge. Kaiser: München 1988, 76f.

[7] Vgleiche auch: Barbara A. Bate, Generic Man, Invisible Woman. Language, Thought and Social Change, in: University of Michigan Papers in Women`s Studies 2 (1975), 2-13.

[8] Siehe zu historisch-kritische feministische Bibelinterpretation: Elisabeth Schüssler Fiorenza, Brot statt Steine. Die Herausforderung einer feministischen Interpretation der Bibel. Exodus: Luzern 1988.

[9] Dies legte zum Beispiel Rosa Söder nahe, in: Die apokryphen Apostelgeschichten und die romanhafte Literatur der Antike, Darmstadt 1969 / 1.Aufl. 1932.

[10] Die AGG umfassen die Akten des Johannes (AJ), die Akten des Andreas (AA), die Akten des Paulus und der Thekla (APl et The), die Akten des Petrus (APt) und diejenigen des Thomas (ATh), siehe: Wilhelm Schneemelcher, Neutestamentliche Apokryphen, Bd. 2. Tübingen 1989. ATh: Maximilanus Bonnet (Herausgeber), Acta Thomae, 1959 (griechisch).

[11] Die Mischnah ist eine Gesetzessammlung, herausgegeben von Judah dem Patriarchen um 200. Sie gehört zum rabbinischen Schrifttum (wie Tosefta, Palästinischer und Babylonischer Talmud). Diese Texte werden heute bezgl. Frauen unterschiedlich gelesen. Zur direkten Rekonstruktion von Frauengeschichte darf aus ihnen meines Erachtens nicht geschlossen werden, da sie ausschliesslich von androzentrischer Perspektive aus verfasst wurden. Jedoch sind die Rabbinen sensibel auf männliche Willkür Frauen gegenüber (vgl. Judith Hauptman, Rereading the Rabbis. A Woman´s Voice. Westviev Press, Colorado 1998). Ich gehe davon aus, dass eine sozialgeschichtliche Lektüre der Mischnah die Perspektive auf die religiöse Praxis und den Alltag von Frauen und Männern dieser Zeit schärft.

[12] Mischna, Seder Naschim, hrsg. von M. Petuchowski und S. Schlesinger, Goldschmidt Verlag Basel 1986.

[13] Zitiert nach: Hebrew-English Edition of the Babylonian Talmud (edited by M. Simon). Ketubbot. London, The Soncino Press 1990. Das ständige laute Schreien könnte in der Mischnah unter “Defekte” diskutiert werden, da vermutet wird, daß eine beim Geschlechtsverkehr lautschreiende Frau Schmerzen empfinden könnte. Diese Möglichkeit überhaupt zu erwähnen, beeindruckt mich. Allerdings wird die Möglichkeit, dass eine Frau Lustschreie ausstösst, nicht erwogen.

[14] Yves Tissot, “Encratisme et Actes Apocryphes”, in: F.Bovon et alii, Les Actes apocryphes des apotres. Genf 1981, 109-119.

[15] Vgl. Virginia Burrus, 1986 (101-117); Stevan L .Davis, 1980; Dennis R. MacDonald, The Role of Women in the Production of the Apocryphal Acts of the Apostles, in: The Iliff Review 40/ 1984/4 (21-38).

[16] Ausgenommen sind hier die Thekla-Akten, die viel Aufmerksamkeit erhalten, siehe L. Schottroff, “Ich kenne die Frau nicht... sie ist auch nicht mein.” Die zwei Gesichter des Paulus. In: Renate Jost, Ursula Kubera (Herausgeberinnen), Wie Theologen Frauen sehen – von der Macht der Bilder. Freiburg/Basel/Wien 1993. Beate Wehn, “Ich bin Sklavin des lebendigen Gottes!” Die Apostolin Thekla: Von Grenzüberschreitungen und ihren Folgen. In: Claudia Janssen, Ute Ochtendung, Beate Wehn (Herausgeberinnen), GrenzgängerInnen. Mainz 1999 (35-48); Beate Wehn, “Selig sind die Körper der Jungfräulichen” – Überlegungen zum Paulusbild der Thekla-Akten. In: Claudia Janssen, Luise Schottroff, Beate Wehn (Herausgeberinnen), Paulus. Feministisch-theologische Untersuchungen zu Geschlechterdifferenz, Leib und Lebensformen. Erscheint in Gütersloh, 2001; Anne Jensen, “Die Theklageschichte. Die Apostolin zwischen Fiktion und Realität”, in: Kompendium Feministische Bibelauslegung, Gütersloh 1998 (742-747).

[17] Eine ausführliche Publikation zu diesem Thema ist vorgesehen.

[18] Eric Junod, Jean-Daniel Kaestli (Herausgeber), Acta Joannis. Brepols-Turnhout 1983. (Corpus Christianourm. Series Apocryphorum 1).

[19] Jean-Marc Prieur (Herausgeber), Acta Andreae. Brepols – Turnhout 1989 (Corpus Christianorum, Series Apocryphorum 6).

[20] R. A. Lipsius (Herausgeber), Praxeis Paulou kai Thekles (235-272). Acta Apostolorum Apocrypha. Hildesheim 1959.

[21] Tatbestand der iniuria und stuprum. Literaturangaben dazu auch in: Beate Wehn, “Selig die Körper der Jungfräulichen”. Überlegungen zum Paulusbild der Thekla-Akten. In: Paulus (erscheint Gütersloh 2001).

[22] In der Antike bestand ein enger Zusammehang zwischen politischer und kultischer Würde. Theklas Handlung wurde als ein Angriff auf die öffentliche und heilige Ordnung gesehen, die die Immunität des bekränzten Mannes verletzt und das Symbol einer Gottheit (Efeu, Lorbeer, Myrthe etc. sind je einer Gottheit zugeordnet) beschmutzt. Vgl. dazu: Grundmann, stephanos, in: Theologisches Wörterbuch zum NT, hg. von Gerhard Friedrich, Bd. VII, Stuttgart/ Berlin/ Köln 1990, 611-635. Zur Interpretation der Stelle siehe Sheila McGinn, The Acts of Thecla, in: E. Schüssler Fiorenza, Searching the Scriptures, volume 2, Crossroad 1998, 816 (800-828).

[23] Maximilanus Bonnet (Herausgeber), Acta Thomae. 1959, s.o.

[24] Carl Schmidt (Herausgeber), Die alten Petrusakten. Leipzig 1903.

[25] Das Konkubinat war nach römischem Recht nur mit infamen Frauen möglich, einer Freigelassenen oder Frauen von zweifelhafter sozialer Herkunft, einer Prostituierten oder Rufgeschädigten. Vgl. dazu: Angelika Mette-Dittmann, Die Ehegesetze des Augustus. Stuttgart 1991, 140.

[26] Unter den drei MitsklavInnen der Eukleia scheint es – rein grammatikalisch - Männer gehabt zu haben. Wir können aber nicht wissen, ob einen, zwei oder alle drei Männer gewesen waren.

[27] Ihr Stummsein bezieht sich hier bis zu ihrer Auferstehung, wo Kallimachos wortreich zum Zuge kommt, sie aber nicht. Später spricht sie dann auch wieder.

[28] Es heißt, die Tochter sei zehnjährig gewesen. Die lex Papia legte 9 nach Christus. fest,daß die Braut bei Verlöbnissen mindestens zwölfjährig sein müsse.

[29] In der lex Julia werden bestimmte Berufsgruppen ausgesondert, deren Trägerinnen zur plebs urbana gehören und somit von der Verantwortlichkeit (als “Täterin”, aber auch als schützenswertes Opfer”) ausgenommen sind. Es sind dies: die öffentliche Geschäfte betreiben (im Sinne von Kleinhandel und Verkauf von Waren), die lenocinium begehen (Kupplerinnen), Schauspielerinnen und die in Schankstuben arbeiten, hier sind sowohl Dienerinnen gemeint, die Wein ausschenken, wie auch die Wirtin, resp. die Besitzerin der Schankstube. Vgl. dazu: Angelika Mette-Dittmann, 71.

[30] Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, Band 1. Frankfurt 1977, 15.

For best printing result we recommend the download.

Luzia Sutter Rehmann,

studierte Theologie in Basel und Montpellier (F), promovierte in Kassel (D) über das Gebärmotiv in der Apokalyptik (1994), 1997-1998 Forschungsaufenthalt in Berkeley (CA, USA). Zur Zeit freischaffende Forscherin und Familienfrau. Zahlreiche Publikationen zu Apokalyptik, Sozialgeschichte und feministische und antijudaismus-kritische Exegese des NT und des frühen Christentums.

© Luzia Sutter Rehmann 2000, lectio@theol.unibe.ch, ISSN 1661-3317

Go back

top