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02-2010

Christl M. Maier, Silvia Schroer 10 Jahre lectio difficilior

Abstract:

Mit der 22. Ausgabe der lectio difficilior feiern die Herausgeberinnen, alle Frauen des editorial board und die AutorInnen das 10-jährige Jubiläum eines erfolgreichen Projekts. Wir verstanden das kurze Treffen beim internationalen Kongress der Society of Biblical Literature in Tartu (Estland) als Beginn einer Reflexionsphase, die nicht nur für das Projekt unserer Zeitschrift, sondern insgesamt für die feministische Exegese von Bedeutung sein dürfte. Was haben wir in den letzten 10 Jahren geleistet? Inwiefern hat sich das Forschungsfeld verändert? Sind wir zufrieden mit unseren Erfolgen? Oder stagniert die Entwicklung? Was bedeutet “feministisch“ im Bezug auf unsere Exegese, Hermeneutik, Theologie? Wie verhalten sich Feminismus und Genderforschung zueinander? Schließlich: wie steht es mit der Präsenz von feministischen ExegetInnen in Lehre und Forschung?
Wir betrachten es nicht als unsere Aufgabe, diese Fragen zu beantworten, aber vielleicht doch einige Langzeitbeobachtungen beizutragen, die für eine noch zu leistende Analyse wichtig sein dürften. Mit solchen Beobachtungen befassen sich die Artikel dieser Ausgabe der lectio difficilior.

Mit der 22. Ausgabe der lectio difficilior feiern die Herausgeberinnen, alle Frauen des editorial board und die AutorInnen das 10-jährige Jubiläum eines erfolgreichen Projekts. Es war ein besonderes Erlebnis, beim internationalen Kongress der Society of Biblical Literature in Tartu (Estland) ein Geburtstagspanel für unsere Zeitschrift mitgestalten zu dürfen. Dafür danken wir besonders Hanna Stenström, die dieses Panel mit vorbereitete, sowie den Sprecherinnen Cheryl Exum, Jorunn Økland und – vertreten durch Hanna Stenström – Caroline Vander Stichele, die die lectio difficilior mitbegründete und die erste Mitherausgeberin war.
Wir verstanden das kurze Treffen in Tartu als Beginn einer Reflexionsphase, die nicht nur für das Projekt unserer Zeitschrift, sondern insgesamt für die feministische Exegese von Bedeutung sein dürfte. Was haben wir in den letzten 10 Jahren geleistet? Inwiefern hat sich das Forschungsfeld verändert? Sind wir zufrieden mit unseren Erfolgen? Oder stagniert die Entwicklung? Was bedeutet „feministisch“ im Bezug auf unsere Exegese, Hermeneutik, Theologie? Wie verhalten sich Feminismus und Genderforschung zueinander? Schließlich: wie steht es mit der Präsenz von feministischen ExegetInnen in Lehre und Forschung?
Wir betrachten es nicht als unsere Aufgabe, diese Fragen zu beantworten, aber vielleicht doch einige Langzeitbeobachtungen beizutragen, die für eine noch zu leistende Analyse wichtig sein dürften. Die Idee, eine feministische Fachzeitschrift zu gründen, wurde in Münster/Westfalen anlässlich eines Treffens der Autorinnen des „Kompendium Feministische Bibelauslegung“ (herausgegeben von Marie-Theres Wacker und Luise Schottroff) im Jahr 1998 geboren. Aber auch bei der Konferenz der Europäischen Gesellschaft für Theologische Forschung von Frauen (ESWTR) in Hofgeismar (1999) wurde über diese Idee nachgedacht und diskutiert. Das Ziel war, eine eigenständige Zeitschrift zu haben, die feministischen Bibelwissenschaftlerinnen hochqualifizierte Beiträge zum Lesen und Autorinnen ein Forum zur Veröffentlichung bietet. Auf dem Gebiet der feministischen Theologie gab es damals nur das „Journal of Feminist Studies in Religion“, das allerdings sehr breit Religion und Theologie im Blick hatte und wenig biblische Beiträge publizierte. Da die Mittel für eine Print-Zeitschrift und deren Verwaltung ohnehin nicht vorhanden waren, dachten wir von Anfang an daran, eine elektronische Zeitschrift zu gründen und diese zudem kostenlos ins Internet zu stellen. Während es inzwischen immer mehr elektronische Zeitschriften gibt, war unsere Entscheidung im Jahr 1999 noch ausgesprochen mutig. Es gab damals nur wenige Erfahrungen mit online-Zeitschriften, so dass wir Neuland eroberten. Den Mut zur Durchführung brachten die Herausgeberinnen und ihr Team auf, die technische Kompetenz trug Rhea Sturm (Büro moka) bei, die die lectio difficilior viele Jahre betreute.
Die an der Projektierung beteiligten Frauen suchten lange nach einem guten Namen für die neue Zeitschrift und entschieden sich für die programmatisch-freche Bezeichnung, die einen Fachterminus der Textkritik auf hintergründige Weise zur feministischen Botschaft macht. Nicht alle Textkritiker hatten und haben Freude daran, dass wir einen Begriff aus ihrem seriösen Arsenal entwendet und ein bisschen zweckentfremdet haben. Am Anfang galt es zudem, grundsätzliche Entscheidungen zu fällen, z.B. dass wir auch Beiträge von Autoren veröffentlichen, wenn diese Beiträge feministisch sind, hingegen keine Männer in die Entscheidungsgremien aufnehmen. In der lectio difficilior erscheinen keine Beiträge, die bereits publiziert wurden, vielmehr unterstützen wir es ausdrücklich, dass unsere Artikel später in Print-Zeitschriften erscheinen (unter Verweis auf die Erstpublikation in der lectio difficilior), um vor allem den Nachwuchswissenschaftlerinnen keine Nachteile aus der Publikation in einem feministischen Journal entstehen zu lassen.
Die lectio difficilior war von Anfang an interdisziplinär und jüdisch-christlich bzw. überkonfessionell, und diese beiden Charakteristika sind weiterhin zentral. Viele unserer Beiträge tangieren Fachgebiete wie klassische Philologie, Archäologie, Ägyptologie, Vorderasiatische Studien, alte Geschichte, Judaistik, Kunstgeschichte, Pädagogik, Musikwissenschaft, Literaturwissenschaft usw. Hinzu kommt, dass die Artikel auf Englisch, Französisch oder Deutsch erscheinen können, und den Blick auf verschiedenste Regionen in Europa, aber häufig auch darüber hinaus, richten.
Es ist kaum möglich, die hermeneutische, methodische und inhaltliche Vielfalt der ca. 80 Beiträge, die seit 2000 erschienen sind, zu systematisieren oder Entwicklungen an ihnen aufzuzeigen. Mit Sicherheit dokumentieren diese Beiträge, dass ihre Autorinnen und Autoren „Feministische Exegese“ wie einen neuen Ozean entdeckten, erkundeten, in alle Himmelsrichtungen und in ihrer Tiefe auszumessen begannen – ein Jahrzehnt Exploration also. Es gibt einige „rote Fäden“ in dieser Vielfalt, beispielsweise das konstante Interesse an deuterokanonischen Schriften, an Texten und Themen rund um Gewalt und Vergewaltigung, an biblischen Prophetinnen.[1]
Immer wieder – und so auch in der Panel-Diskussion in Tartu – stellte sich angesichts dieses großen Spektrums an Themen und Ansätzen die Frage, was das eigentlich „Feministische“ der Artikel ausmache. Tatsächlich haben wir (Herausgeberinnen und editorial board) schon Artikel zurückgewiesen, die uns zu wenig „feministisch“ erschienen. Aber was bedeutet „feministisch-exegetisch“? Zu der theoretischen Frage kommt eine kulturelle: In der Diskussion in Tartu wurden die Vielfalt und die Breite feministischer Exegese deutlich, wie auch die verschiedenen Situationen, in denen feministische Exegese an der Universität und in der Öffentlichkeit betrieben wird. Deshalb bedarf es unterschiedlicher Strategien, um feministischer Exegese mehr Gewicht zu verleihen. Die in dieser Ausgabe veröffentlichten Beiträge zum Panel in Tartu werfen die Frage auf verschiedene Weise ebenfalls auf.

  1. Etwa zur gleichen Zeit, als die lectio difficilior gegründet wurde, wurde das Wort „feministisch“ an den Universitäten und in den Forschungsgemeinschaften durch „gender“ ersetzt. „Genderforschung“, „genderspezifisch“ usw. wurde als eine der Realität und ihren Geschlechterverhältnissen und vor allem der political correctness besser entsprechende Umschreibung der Sache dargestellt, obwohl gerade feministische Theologinnen zu dem Zeitpunkt schon längst geklärt hatten, dass „feministisch“ gerade nicht einfach „frauenbezogen“ bedeute, sondern eine umfassende Analysekategorie sei (vgl. z.B. die Patriarchats-/Kyriarchatsdefinition bei E. Schüssler Fiorenza). Die Diskussion darüber, ob es universitäts- und frauenpolitisch klug war, den Begriff Feminismus durch „weichere“ Bezeichnungen zu ersetzen, wurde kaum je geführt. Praktisch überschneiden sich seit über zehn Jahren Identifikationen und Zuweisungen in beiden Gebieten weitgehend, und auch in der lectio difficilior gibt es zahlreiche Beiträge, die eher ein Interesse an Genderforschung als einen im deutlichsten Sinn feministischen Ansatz vertreten. In derselben Zeitspanne verlor auch die Befreiungstheologie an Konturen, sodass sich kaum noch AutorInnen durch diese Zuordnung ausweisen. Es scheint dringend, das Attribut „feministisch“ neu zu füllen. Unbestritten beinhaltet es die Interdisziplinarität und Methodenvielfalt. Als politischer Begriff sollte „feministisch“ reformuliert werden, ohne dadurch zum Instrument des Ausschlusses zu werden.
  2. Seit dem Jahr 2000 ist Feminismus, feministische Theologie und feministische Exegese institutionell in den europäischen Ländern in ganz unterschiedlichem Maß verankert worden. Jorunn Økland kann im Blick auf skandinavische Länder von einer Art staatlichem Feminismus sprechen. Im deutschsprachigen Raum sind etliche feministische Theologinnen auf reguläre Lehrstühle, gerade auch in den Bibelwissenschaften, gekommen. Dennoch ist der Prozentanteil von Frauen in vielen Sektoren des akademischen Lebens, z.B. in Präsidien von Institutionen, bei Konferenz- und öffentlichen Vorträgen und Beiträgen in Mainstream-Publikationen, immer noch klein. Während in Europa vielerorts ein Backlash deutlich spürbar ist, scheint sich feministische Theologie außerhalb von Europa an vielen Stellen dynamisch und hoffnungsvoll zu entwickeln. Die teilweise ernüchternden Resümees der letzten Jahrzehnte zeigen jedenfalls, dass unsere Fortschritte in einigen europäischen Ländern gefährdet und keineswegs abgesichert sind. Was ist zu tun, damit Frauen und feministische Themen im akademischen Diskurs nicht am Rand bleiben, sondern ins Zentrum gelangen können? Hier rücken eindeutig Machtfragen und Politik ins Blickfeld. Das Beispiel des „Ratings“ von Zeitschriften, das nach Kriterien von überwiegend mit männlichen Wissenschaftlern besetzten Gremien entworfen und angewandt wird, wurde in Tartu als konkretes Beispiel genannt. Eine Zeitschrift wie die lectio difficilior zahlt für ihre Unabhängigkeit einstweilen den Preis, trotz ihres ausgewiesenen hohen Fachniveaus und ihrer Internationalität nicht in die A-Kategorie der internationalen Ratings theologischer Zeitschriften aufzusteigen.
  3. Das Grundanliegen aller kritischen Theologie, gefährliche und subversive Erinnerung wachzuhalten (J.B. Metz), bedeutet in Bezug auf feministische Theologie und Exegese weiterhin: Frauen erinnern, Frauen in die Geschichte hineinschreiben, sich auf Frauen beziehen, die Werke von Frauen früherer Epochen und zeitgenössischer Frauen lesen, zitieren und ihre Fragen aufnehmen.

In diesem Sinn freuen wir, die Herausgeberinnen, die Frauen des editorial board und die AutorInnen uns auf viele weitere erfolgreiche Jahre der lectio difficilior. Ein besonderer Dank sei an dieser Stelle Dr. Ulrike Sals ausgesprochen, die seit 2004 die Redaktion der Artikel und viele weitere Aufgaben in der Planung, Organisation und Durchführung der Zeitschrift mit ganzem Engagement und großer Zuverlässigkeit übernommen hat. Ulrike Sals verlässt nach Ablauf ihrer Stelle die Universität Bern und übergibt die Redaktionsarbeit an Sophie Kauz. Vielen Dank, Ulrike, für diesen großartigen Beitrag zur feministischen Wissenschaft.


 

[1] Vgl. Ulrike Sals: Reading the Difficult Way – for Ten Years. In: Annette Esser u.a. (Hg.): Feminist Approaches to Interreligious Dialogue (Jahrbuch der ESWTR 17), Leuven 2009, 209-214.

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Christl M. Maier,

ist seit 2007 Professorin für Altes Testament an der Philipps-Universität Marburg. Davor lehrte sie an der Yale University, Divinity School, in New Haven, USA (2003-2006) und an der Humboldt-Universität zu Berlin (1990-2003, Promotion 1994; Habilitation 2000). Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Weisheitsliteratur und die Prophetie sowie die feministische Hermeneutik. Ihr jüngstes Buch ist "Daughter Zion, Mother Zion: Gender, Space, and the Sacred in Ancient Israel" (Fortress Press, Minneapolis 2008).

Silvia Schroer,

ist seit 1997 Professorin für Altes Testament und Biblische Umwelt an der Theologischen Fakultät der Universität Bern. Sie ist Mitherausgeberin der lectio difficilior.

© Christl M. Maier, Silvia Schroer 2010, lectio@theol.unibe.ch, ISSN 1661-3317

 
 
 
 

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