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02-2007

Judith Hélène Stadler Die Figur der Noomi-Mara im Buch Rut

Abstract:

A travers de la tradition chrétienne la figure de Noomi du livre de Rut ne joue pas un grand rôle. Dans la peinture elle est souvent représentée comme une vieille femme courbée. Plusieurs savants nous dessinent une figure dépourvue de qualités: une pauvre veuve âgée, ménopausée, parfois même de mauvais caractère à l’ombre de la jeune et attractive protagoniste Rut avec sa moralité exemplaire. L’auteur de l’article nous montre que les images stéréotypées et discriminatoires de la figure de Noomi ne peuvent pas être forcement trouvées dans le texte biblique. Elle nous présente d’autres interprétations possibles: Noomi peut être présentée comme femme bien consciente de ses responsabilités, pleine d’amour pour les autres, attractive, restée jeune à tous égards et étant propriétaire de terre. La figure de Rut lui manifeste la plus grande estime possible. Suite aux dures épreuves qu’elle a vécues la figure de Noomi-Mara vit une crise qui influence son comportement, mais celui-ci n’est jamais jugé de manière négative dans le texte. De ce fait, le texte peut être lu avec Noomi comme protagoniste, et il nous invite à réfléchir profondément à nos préjugés culturels.

Einleitung

Bis heute hat das Buch Rut gestaltende und deutende Kraft für die Lebensrealität von Frauen. Im Rampenlicht der Rezeption steht normalerweise die Titelfigur Rut. In diesem Artikel stelle ich bewusst die Figur der Noomi ins Zentrum und gehe folgenden Fragen nach:

  • Woher kommt das Bild der alten, unfruchtbaren, unerotischen, armen Witwe Noomi im Schatten der jungen, attraktiven, moralisch über alles erhabenen Titelfigur?
  • Welche alternative Rezeption der Figur der Noomi wäre denkbar?

Ich betrachte das Buch Rut als Weltliteratur und gehe literaturwissenschaftlich an den Text heran. Dabei halte ich mich an Klügers Devise (2002: 83-85), dass Literaturbetrachtung nicht nur sprachbezogen sein soll. Klüger setzt sich dafür ein, dass auch ausserästhetische Überlegungen zulässig sind. Sie ist der Ansicht, dass Texte auf Frauen anders wirken als auf Männer. Die Rezeptionsästhetik lehrt, dass das Wort oder der Text kein Ding an sich ist und jede und jeder anders liest. „Texts need readers to actualize them, but readers need texts to actualize.“ (Exum 1996: 137) Mein Ziel ist es, mit dem Text in Kommunikation zu treten und Weiblichkeitsstereotypen – insbesondere auch reifen Frauen gegenüber – aufzudecken und andersartige frauengerechte Ansätze zu entwickeln. Themen wie Alter, Homosexualität und das Wechseln der Figur der Noomi zwischen weiblichen und männlichen Rollen erfordern die Berücksichtigung des Genderaspektes. Das Schicksal der Figur der Noomi und ihre Reaktionsweise darauf verlangen auch eine psychologische Betrachtungsweise. Dabei bleibt auch meine Interpretation ein Versuch unter vielen, mich der Figur der Noomi anzunähern.

Das Buch Rut: Besonderheiten, Autorinnen/Autoren, Entstehung

Das Buch Rut weist einige Besonderheiten auf: Es zeigt wie kein anderes Buch in der Bibel den harten Alltag von Frauen, ihre Machtlosigkeit, aber auch ihre Einflussmöglichkeiten. Es erzählt von der Liebe einer Frau zu einer anderen, von Frauensolidarität und von Frauenpower. Es thematisiert die Probleme kinderloser Witwen und erzählt eine konkrete Halacha des vorherrschenden patriarchalen Rechtssystems. Die Charaktere werden durch ihre Namen vorgestellt. Konturen bekommen sie durch ihre Reden und ihr Tun. Kein anderes biblisches Buch enthält vergleichbar viele direkte Reden.

Zur Frage der Autorinnen- oder Autorenschaft besteht in der Forschung keine Einigkeit. Die Frage, ob das Buch Rut einer Autorinnen- oder Autorenschaft entstammt, ist Ausdruck notwendiger weiblicher Identitätssuche des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Selbst wenn sich im Buch Rut androzentrische Ordnung spiegelt und Noomi in diesen Kategorien denkt, kann daraus nicht zwingend eine Autorenschaft hergeleitet werden. Frauen in einer androzentrischen Gesellschaft denken, erzählen und schreiben ebenfalls in diesen Kategorien.

Die vorliegende Form der Erzählung dürfte das Ergebnis eines längeren Entstehungsprozesses sein, an dem Frauen und Männer beteiligt waren. Guter literarischer Stoff entspringt in der Zeit vor dem Hellenismus im Orient nie den Einfällen einer einzelnen Autorin oder eines einzelnen Autors. Da vor allem Noomis Schicksal und ihr Verhalten dazu nachvollziehbar sind, könnten zumindest Teile des Textes die Erlebnisse einer Frau oder mehrerer Frauen wiedergeben. Verschiedene Interessen können Endredaktorinnen und/oder -redaktoren veranlasst haben, die Erzählung oder die Erzählungen zu überarbeiten und in die Ketubim aufzunehmen: Neben der Kritik am restriktiven Ausländergesetz und/oder an androzentrischer Gesetzgebung, könnte die Popularität einer schon bestehenden Erzählung, respektive schon bestehender Erzählungen den Ausschlag gegeben haben.

Brenner (1993: 70-84) vertritt die Hypothese, dass dem Buch zwei Quellen zu Grunde liegen, eine Noomi- und eine Rut-Geschichte. Beide Erzählungen seien im masoretischen Text kombiniert worden sein. Die Protagonistin der einen Erzählung sei die junge, fremde, kinderlose Witwe Rut, diejenige der anderen die kinderlos gewordene judäische Witwe Noomi. Die ursprünglichen Erzählungen unterschieden sich in Details und Unterthemen, wiesen aber folgende Gemeinsamkeiten auf:

  • gleiches Thema: eine kinderlose Witwe und ihre Rechte
  • gleicher Ort der Handlung: Bethlehem
  • gleiches soziales Umfeld: judäische Perez-Familie
  • thematische Parallelen zu anderen biblischen Erzählungen über kinderlose Frauen und ihre Strategien, die Familie aufrecht zu erhalten (Sara, Lots Töchter, Tamar)

Nach Brenners Rekonstruktionsversuch wäre die Judäerin Noomi, nachdem sie in Moab Mann und Kinder verloren hat und verarmt ist, allein nach Bethlehem zurückgekehrt, wo sie noch Land und Familienbande besitzt. Sie wendet sich an Boas. Dieser entmutigt den anderen Löser und hilft ihr, den Besitz zu erhalten. Sie bekommt einen Sohn, und die Familie bleibt erhalten.

Die zweite Erzählung würde von der kinderlosen Moabiterin Rut handeln, die im eigenen Land mit einem Judäer verheiratet war. Nach dessen Tod bricht sie ins Land ihres Mannes auf, wo sie sich aus eigener Initiative der Familie ihres Mannes stellt und Boas verführt. Sie integriert sich in die judäische Gesellschaft und wird Urmutter einer Dynastie. Diese Erzählung hat die Integration einer Fremden in die judäische Gesellschaft zum Thema.

Die beiden Heldinnen mussten erhalten bleiben und verbunden werden. Dies gelang durch eine Schwiegermutter-Schwiegertochter-Verbindung, welche weder Noomis noch Ruts Probleme ausschliesst. Die reife Frau, Noomi, wird zur Pflegemutter für Ruts Kind. Die Hauptprobleme beim Zusammenfügen der beiden beliebten Erzählungen sind der Wechsel der dominanten Rollen zwischen Noomi und Rut, die Spannung, die das Thema Mutterschaft umgibt, und die Frage, wer von beiden vom Löser profitiert. Durch das Zusammenführen der beiden Erzählungen ist etwas Neues und Neuartiges entstanden: Die Geschichte zweier Frauen, die verbunden sind und gemeinsam an einer Lösung arbeiten. Brenners Hypothese kann erklären, weshalb es schwierig ist, in der uns vorliegenden Erzählung eine Protagonistin bestimmen zu wollen.

Rezeptionen

Die Rezeption der Figur der Noomi-Mara in der jüdischen und in der christlichen Tradition

Gemäss dem Targum Rut, das Traditionen bezeugt, die bis ins 1. Jh. v. Chr. zurückgehen (Zenger 1986: 105), hat Noomi Rut im jüdischen Glauben unterwiesen. Sie spielt dort eine ganz entscheidende Rolle: Ihr ist es zu verdanken, dass Rut zur ersten Konvertitin wird. Die einzelnen Elemente des Treueschwurs von Rut – Gott, Volk, Aufenthalts- und Bestattungsort – werden von Noomi mit den Basiselementen des Judentums verknüpft: Sabbat und Festtage, Reinheit, Fremdgötterverbot. Rut erklärt sich bereit, alle Gebote der Tora zu halten. Doch schon hier wird Wert auf das hohe Ansehen von Boas und Rut gelegt: Die nächtliche Szene auf der Tenne wird erläutert und in eindeutig sittliche Bahnen geleitet, die Unerhörtheit des Fremdenstatus der Moabiterin nach Deuteronomium 23,4 geschwächt und die messianische Perspektive gestärkt, indem Rut zur Ahnin des königlichen Retters Israels wird.

Nach dem rabbinischen Verständnis im Midrasch RutR soll das Buch als Vorgeschichte Davids und des Messias gelesen werden. Als Hauptfigur wird hier eindeutig die Moabiterin Rut gesehen. Sie wird zum moralischen Vorbild. Ihre Einwanderung nach Israel wird als Übertritt zum Judentum gedeutet. Gemäss RutR. 2,12 ist Rut eine Zadkoniss (Gerechte). Dass sie zu einer solchen wurde, hat sie Noomi zu verdanken. Denn diese hat einen grossen Einfluss auf ihr Leben und ihre Art zu leben ausgeübt. Noomi soll sehr fromm gewesen sein: „She is one of the twenty-two pious women whose piety was praised by Salomon in the last chapter of Proverbs, where the words‚ she reacheth forth her hand to the needy refer to Naomi, who brought Ruth under the wings of the Shekinah.“ (Ginzberg 1968a: 32; 1968b: 190) Nach Berechnung der Rabbinen ist Noomi vierzig Jahre alt (RutR. 4,4), soll jedoch wie eine Vierzehnjährige ausgesehen haben und eine ausserordentliche Schönheit gewesen sein (RutR. 6,2).

In bSanh 19b steht, dass Rut Obed gebar, aber dass Noomi ihn erzog und dass er darum nach ihr benannt wurde. Nach bBB 91a-91b wird der Schrecken, der die ganze Stadt ergriff, als Noomi kinderlos zurückkam, so gedeutet, dass die Bevölkerung erkannte, dass Elimelech und seine Söhne für das Ausziehen aus Israel bestraft wurden. Bei Jeb 47b geht es um die Proselytenaufnahme. Es soll nicht zuviel auf einen Übertrittswilligen eingeredet werden. R. Eleâzar bezieht sich auf Noomis Verhalten: ‚Als sie sah, dass sie (Rut) fest entschlossen war, mit ihr zu gehen, liess sie ab, zu ihr zu reden. Sie (Noomi) hatte ihr (Rut) gesagt: uns ist eine Schabbatgrenze gesetzt.‘

Fazit: Die Figur der Rut ist in der rabbinischen Literatur zentral. Nach Bronner (1993: 146-170) geht es den Rabbinen darum, gewisse Aspekte Ruts hervorzuheben und zu verschönern, um sie zu einer ehrenwerten Ahnin Davids zu machen. Im Judentum seien die von den Rabbinen hervorgehobenen Vorzüge Ruts wie selbstaufopfernde Liebe, weibliche Unterwürfigkeit und Bescheidenheit zum Vorbild weiblichen Verhaltens geworden. Doch obwohl Noomi in der Rezeption immer mehr an den Rand gedrängt wird, wird sie positiv dargestellt: Sie sieht nicht nur jung und schön aus, sie gilt als äusserst fromm, und es ist ihr zu verdanken, dass Rut eine Zadkoniss wurde. Dass sie als Vorbild für den Umgang mit Proselytinnen und Proselyten gilt, ist bemerkenswert, liegt doch die religiöse Unterweisung seit Jahrhunderten in den Händen der Männer.

Rut wird im Stammbaum Jesu in Mattäus 1,5 namentlich erwähnt, nicht aber Noomi, die laut Aussage des Buches Rut die legitime Mutter-, respektive Vaterfunktion (4,16-17) zugesprochen bekommt (s. weiter unten).

Die Kirchenväter und -mütter verstanden Rut als Stammmutter Davids und Jesu. Sie deuteten das Buch Rut auf Christus hin. Den Eigenwert der Erzähltradition liessen sie dabei ausser acht. Die Person Rut ist in der patristischen Schriftauslegung hoch angesehen. Ihre aussergewöhnliche Tugendhaftigkeit wie Demut, Keuschheit, Gehorsam und Glauben und ihre ausländische Herkunft werden hervorgehoben. „Rut wird zum Typos der Heidenkirche und als Stammmutter der Heiden zur Garantin der Erlösung der Heiden durch Christus. Durch Ausklammerung der Rolle Noomis im Buch Rut wird Boas als derjenige betont, der die Heidin Rut in die Gemeinde Israels durch die Heirat aufnahm. Boas wird so zum Typos Christi, der die Heidenkirche gestiftet hat. Der zweite Löser wird in dieser Auslegung zum Typos der Juden, die nicht aus eigener Kraft in der Lage waren, das Heil den Heiden (Rut) anzubieten.“ (Frevel 1992: 172-173) Die Kirchenväter haben Rut als heilsgeschichtliche Vorwegnahme der ‚Kirche aus den Heiden‘ und als Vorbild für die geforderte christliche Lebenspraxis betrachtet. Ihre Interpretationen übergehen nicht nur Noomi, sie sind auch frauen- und judenfeindlich.

Im Christentum galt die Figur des Hiob schon früh als Inbegriff des Leidens, während die jüdische Kultur sie deswegen lange nicht rezipierte (Oberhänsli-Widmer 2003). Obwohl die weibliche Leidensfigur Mara und ganz Israel am Schluss der Erzählung Rut durch JHWH errettet werden und bewusst eine Parallele zwischen den beiden Leidensfiguren hergestellt wird (Rut 4,15; Hiob 42,13), wurde sie in der christlichen Rezeption als solche übergangen.

Fazit: Insgesamt hat die Figur der Rut eine breite Rezeption gefunden, während Noomi zur vernachlässigten Nebenfigur wurde.

Die Rezeption der Figur der Noomi in der Bildkunst

Unsere Wahrnehmung der Figuren Noomi und Rut wird auch durch die Bildkunst geprägt. Jahrhundertelang wurden Künstler durch Themen des Buches Rut inspiriert. In der Viviansbibel aus dem 9. Jh. werden Noomi, Obed, Rut und Boas zusammen auf einer Initiale dargestellt. Ab dem 12. Jh. kommt Noomi manchmal zusammen mit anderen Figuren wie Elimelech, Machlon, Kiljon und Orpa in biblischen Bilderzyklen vor. Eine Bibelillustration aus dem Jahre 1250 bildet eine sitzende Noomi in der Mitte eines Bildes doppelt ab: Auf der linken Bildhälfte erhält sie von Rut Korn, auf der rechten gibt sie ihr Anweisungen (Pierpont Morgan Library, New York). Doch im Allgemeinen wird Noomi zugunsten Ruts in der Bildkunst vernachlässigt. Beliebteste Szenen für Illustrationen zur Rutgeschichte in Bibelhandschriften sind die Ähren sammelnde Rut, die Tennenszene mit Rut und Boas und die gekrönte Rut als Typos der Kirche. Bis in die Neuzeit ist das Thema ‚Rut findet Gnade bei Boas‘ – z.B. auf dem Gemälde von Hans Holbein d.J. und auf der Federzeichnung bei Rembrandt – beliebtestes Thema.

Im 16. Jh. stellt Vam Heemskerck auf einem seiner Gemälde Rut als junge, attraktive, blonde Frau mit aufwendigem Kopfschmuck und in wertvollem, kurzem rotem Kleid dar, das ihre Taille betont und ihr mit Goldketten geschmücktes Decolleté sowie ihren linken Oberschenkel grosszügig freilässt. Noomi hingegen zeigt er als stark gebeugte weisshaarige Alte mit einfachem rotem Kopfschmuck in hochgeschlossener schwarzer Bluse, die kein Schmuckstück ziert, und einem roten langen Rock, der vollständig ihre Füsse bedeckt. Während Rut aufrecht in der Mitte seines Bildes steht, sitzt Noomi links an ihrer Seite und wird beinahe aus dem Bild gedrängt (Kunsthistorisches Museum Wien). Im 17. Jh. platziert Willem Drost auf seinem Gemälde Ruth und Noomi eine grosse, wohlgenährte Rut auf der rechten und eine kleine, alte, magere und gebeugte Noomi auf der linken Seite. Noomis Augen sind gross, und sie scheint ziemlich ratlos auf die hingebungsvoll blickende Rut zu schauen, die sich ihr in den Weg gestellt hat. Ihre Hand hat sie zum Segen erhoben und ihren nackten Fuss zum Weitergehen angesetzt (Ashmolean Museum, Oxford). Etwa zur gleichen Zeit malt Pieter Lastman auf seinem Ruth Swears Loyality to Naomi Noomi als verhutzelte Alte auf einem Esel, welche die junge, flehende Rut von sich wegstösst (Niedersächsische Landesgalerie, Hannover).

Im 19. Jahrhundert malt William Blake eine junge Rut, die sich an eine alte, runzlige Noomi klammert (Victoria and Albert Museum, London) und Thomas Matthew Rooks eine süsse, junge Rut, die den Arm einer abgehärmten Noomi ergreift (Tate Gallery, London). Alle Darstellungen der Neuzeit bis weit ins 19. Jh. hinein zeigen Noomi als schwache, unattraktive Alte. Philip Hermogenes Calderon ist der Erste, der im 19. Jh. Noomi völlig anders wahrnimmt und darstellt. Auf seinem Gemälde Ruth and Naomi zeigt er drei Figuren auf einem Weg in einer Wüstenlandschaft. Auf der linken Seite des Bildes umarmt eine junge, attraktive Frau in weissem Kleid, das ihre Arme und das Décolleté freilässt, eine grosse Figur mit grauem Mantel und Kopfbedeckung, auf der rechten Seite steht in einiger Distanz eine Figur mit blauem Mantel und Kopfbedeckung (Walker Art Gallery, Liverpool). Exum (1996: 129-131) stellte fest, dass alle von ihr befragten Betrachterinnen und Betrachter des Bildes, denen sie den genauen Titel vorenthielt, die junge umarmende Frau in der Mitte als Rut identifizierten. Ein Teil von ihnen interpretierte die von Rut umarmte Gestalt als Boas, während die sich abwendende, sich rechts aus dem Bild bewegende Frau als Noomi gedeutet wurde. In Wirklichkeit aber handelt es sich hier um die Abschiedsszene auf dem Weg nach Bethlehem (1,8-17): Orpa wendet sich ab und Rut ‚klebt‘ sich an Noomi. Mehrere Faktoren sind an der falschen Interpretation des Bildes schuld: Es darf nicht wahr sein, dass die grosse, aufrecht stehende, stark wirkende Figur Noomi ist. So aufrecht und stark wie Noomi auf dem Bild können nur Männer sein. Und zudem darf nicht wahr sein, dass sich Rut so hingebungsvoll und erotisch Noomi hingibt. Normalerweise sind die Figuren Rut und Boas im Zentrum unserer Wahrnehmung, während die Figur der Noomi an den Rand gedrängt wird.

Im 20. Jahrhundert malt Marc Chagall einen Rut-Zyklus: den Abschied der drei Frauen, die Übergabe der Nachlese von Rut an Noomi und Rut und Boas auf der Tenne (Musée National du message biblique, Nizza). Auf dem Abschiedsbild stellt er eine grosse Noomi in die Mitte. Orpa und Rut umarmen, respektive stützen sie von beiden Seiten. Völlig anders wirken Noomi und Rut auf einer Illustration zum Buch Rut von Arthur Szyk. Sie bildet die Szene ab, als Noomi nach Bethlehem kommt. In der Mitte befindet sich eine skeptisch dreinschauende, starke Noomi, links von ihr gegen den Bildrand hin das geduckte Mädchen Rut. Abhängig sind sie beide von den Frauen von Bethlehem, die im Vordergrund auf die beiden zeigen. Die Männer von Bethlehem sind im Hintergrund. Ohne Bildnachweis finden wir eine dominante Darstellung Noomis bei Wind (2004: 42). Auf der Zeichnung umarmt Rut Noomi. Noomi ist hier eine kräftige, standfeste Frau mittleren Alters. Sie steht im Zentrum. Rut legt ihren Kopf auf ihre Brust. Orpa hält mit der einen Hand diejenige Noomis, mit der anderen verbirgt sie ihr Gesicht. Sie wendet sich in Gram ab und drängt rechts aus dem Bild.

Besonders der Film The Story of Ruth leistet einen Beitrag zu unserem Noomi-Bild. Hier wird Noomi durch Rut und Boas in den Hintergrund gedrängt, ihre Beziehung wird romantisiert. Die Rutgeschichte wird zu einer Liebesgeschichte zwischen Boas und Rut. Einerseits widerspiegelt der Film den Volksglauben, dass es sich hier um eine solche handelt, anderseits verstärkt er ihn noch. Er verstärkt auch das Bild einer unerotischen ‚Grossmutter‘ Noomi. „By making Naomi old, while Ruth and Boaz are young and attractive, the film effectively defines the one relationship as parental, and the other as romantic.“ (Exum 1996: 162) Im Film ist Rut eine moabitische Priesterin. Der Grund, dass Rut Noomi nachfolgt, ist gemäss Film JHWH und nicht Noomi. Im biblischen Text sagte Rut nie, dass JHWH der einzige richtige Gott ist, wie sie dies im Film tut. Sie sagt, dass Noomis Gott ihr Gott sein werde (1,16). Die Musik, die Ruts Treueschwur gegenüber Noomi folgt, wird wiederholt, als Rut zu Boas sagt, dass sie ihn liebe (was sie im biblischen Text nicht tut). Ruts Liebe zu Noomi und die Stellung Noomis werden durch den Film geschwächt. Die heterosexuelle Verbindung triumphiert über die Verbindung der beiden Frauen und löst sie auf.

Fazit: In der Bildkunst wird vor allem die Figur der Rut rezipiert. Noomi wird nie allein abgebildet. Wenn Noomi und Rut zusammen dargestellt werden, dann wird die Attraktivität der jungen Rut – von einigen Ausnahmen ab Ende des 19. Jahrhunderts abgesehen – durch eine alte, unerotische Noomi betont.

Die ‚defizitäre‘ Rezeption der Figur der Noomi in der Wissenschaft

Etliche Wissenschafter zeichnen das Bild einer alten, unfruchtbaren Noomi. So schreibt Hertzberg (1965: 263) über Noomi:„... weder ist sie in Hoffnung, noch ist es zu erwarten, so dass es zwecklos wäre, einem etwaigen dritten Sohn entgegenzusehen, zumal Naemi ohnehin dafür zu alt ist.“ Er zieht die Parallele zwischen Abraham und Rut. Wie Abraham in Genesis 11,30 hätte diese niemanden bei sich ausser einer ‚unfruchtbaren‘ Frau (1965: 264). Sasson (1979: 24-25) ist überzeugt, dass der springende Punkt bei Noomi nicht ist, dass sie zu alt sei, um einen Mann zu bekommen, sondern dass sie zu alt sei „to have sexual relation that would result in pregnancy.“

Auch Wissenschafterinnen wie Jost (1992: 24), Butting (1994: 31) und Fischer (2001: 236) sind überzeugt, dass Noomi zu alt sei, um noch Kinder zu bekommen. Nach Sölle (2003: 72) ist Noomi so alt, dass sie zu schwach für körperliche Arbeit ist: „Noomi kann nicht mehr auf den Acker gehen zum Ährenlesen, sie braucht die tatkräftige Hilfe der jüngeren Frau.“ Petermann (1998: 104) meint sogar: „Rut ist ... eine mittellose, doch gefährlich attraktive Fremde, Noomi hingegen eine Greisin.“ Indem sie Noomi als Greisin bezeichnet, rechnet sie diese Menschen des ‚vierten Alters‘ zu, die in ihrem geistigen, körperlichen, psychischen und sozialen Funktionsbereichen eingeschränkt sind (vgl. Backes et al 2003: 23-25).

Im ganzen Buch Rut wird Noomis Verhalten nirgends verurteilt. Es gibt jedoch in der Wissenschaft Stimmen, welche die Figur der Noomi als charakterlich hässlich einstufen und sie so zur Gegenfigur Ruts machen. Fewell und Gunn sehen in Noomi eine egoistische, nur auf sich selbst bezogene Frau. Sie arbeiten mit den Leerstellen des Textes: „Those silences drew us into them to ponder her more critically, to wonder less at her apparent altruism and more at her own self-interest.“ (1999: 235) Ihre verbale Grosszügigkeit beim Abschied von den Schwiegertöchtern in 1,8 sei nur höfliche Rhetorik, in Tat und Wahrheit wolle sie ihre peinlichen, moabitischen Schwiegertöchter loswerden. Im Gespräch mit ihnen in 1,13 beklage sie nur ihren eigenen Verlust. Während Ruts Liebesschwur (1,16-17) normalerweise Herzen schmelzen lasse, schweige Noomi dazu. Das bedeute, dass Noomi es Rut übelnehme, dass sie ihr folge. Sie ärgere sich darüber, sei darüber irritiert und frustriert. In Bethlehem angekommen, beklage Noomi sich erneut nur über ihr ‚Leersein‘ (1,20-21). Da sie die Moabiterin als Ärgernis und Bedrohung wahrnehme, tue sie bei der Ankunft in Bethlehem so, als sei diese nicht vorhanden. Sie schweige aus Scham, weil die Moabiterin ihr – respektive Elimelechs – Versagen im fremden Land verkörpere. Ihr Schweigen zeige ihre kulturelle und religiöse Schuld. Fewell und Gunn unterstellen der Figur der Noomi also, dass sie in einfachem Tun-Ergehen-Zusammenhang denkt.

Die einzigen Worte, die Noomi für Rut in 2,2 finde, seien: „Geh, meine Tochter!“ Sie verschweige ihr Boas. Noomi sei fremdenfeindlich und schicke Rut deshalb ohne Ratschlag und Warnung auf das Feld. Sie sei sich der Gefahren, die dort auf die junge Frau lauerten, sehr wohl bewusst. Erst nachdem ihre Schwiegertochter Boas persönlich kennen gelernt und ihr Essen gebracht habe (2,18), breche Noomi ihre Zurückhaltung Rut gegenüber und stelle ihn ihr als Verwandten vor (2,20). Noomi zeige sich jetzt nur über die Männer auf dem Feld besorgt (2,21), weil Rut ihre Brotgeberin geworden sei und sie nicht wolle, dass sie mit einem jungen, armen Mann davonrenne. Da Boas offensichtlich Interesse an Rut gezeigt habe, wittere sie eine bessere Partie. Noomi schaue ihre Schwiegertochter nun als nützlich an. Wegen des drohenden Winters sei sie bereit, diese in die gefährliche Aktion auf der Tenne zu stürzen (3,1-4). Noomi plane aktiv das Vorgehen mit dem Ziel, Boas eine Falle zu stellen: Geschlechtsverkehr, am besten mit daraus resultierender Schwangerschaft, soll diesen ehrenwerten Mann zur Heirat oder mindestens einer Geldzahlung zwingen. Da er mit ihr verwandt sei, müsse er einen öffentlichen Skandal vermeiden. Noomi bleibe zu Hause sitzen, um sich selber nicht in Gefahr zu bringen. Sie sei überzeugt gewesen, dass Boas sich nicht freiwillig der Moabiterin Rut genähert hätte und habe ihm somit die gleiche Fremdenfeindlichkeit, die sie selber habe, unterstellt.

Rut verschweige Noomi, dass sie auf der Tenne aktiv gewesen sei. Noomi hätte wahrscheinlich nichts anderes ertragen, als das, was sie sich zu hören wünschte. Sie hätte wohl gewollt, dass Boas Rut gesagt hätte, was sie zu tun habe. Rut überbringe Noomi die Gerste mit Worten Boas, die dieser nie gesagt habe (3,17). Rut habe Boas’ Anteilnahme für Noomi erfunden, da sie deren Hauptanliegen habe spiegeln wollen.

Am Ende des Buches liegt wieder eine Leerstelle über Noomis Reaktion zu Rut vor, nachdem diese Obed geboren hat. Dass Rut einen Mann finde, sei nicht das Anliegen der Erzählenden gewesen, sondern nur Noomis. Ihr gehe es nicht darum, dass es Rut gut ergehe. Deshalb äussere sie sich weder zur Heirat noch zur Geburt. Dieses Schweigen habe die Frauen der Stadt getroffen. Deshalb hätten sie sich zu Rut geäussert (4,15). Als Noomi das Kind an ihren Busen drückte, hätten sie ihre Auffassung gespiegelt, dass ihr ein Sohn geboren sei (4,17). Für sie hätte sich nun die Lösung ihres Elends gefunden. Auf die Aussage, dass Rut mehr wert sei als sieben Söhne, habe Noomis Antwort nur Schweigen sein können (1999: 233-239).

Obwohl Fewell und Gunn von sich selber sagen, dass sie den feministischen Standpunkt vertreten (1999: 233), ist nicht erkennbar, worin der frauengerechte Ansatz ihrer Interpretation liegt, wo sie Weiblichkeitsstereotypen aufdecken und sich für die Förderung und Würde der Frau einsetzen. Noomi wird zu einer der hässlichsten, narzisstischsten Schwiegermutterfiguren der Literaturgeschichte gemacht.

Gitay (1993: 178) ist ebenfalls der Ansicht, dass Noomis Aussage in 1,21, dass JHWH sie habe leer heimkehren lassen, als Gottes Strafe gegen das Verbot der Mischehen gedeutet werden könne. Auch sie meint, dass Noomi sich für die moabitische Schwiegertochter geschämt habe. Gitay sieht in Noomi die zentrale Figur der Erzählung und fragt sich, warum das Buch nicht nach ihr benannt worden ist. Sie sieht darin folgende Gründe (1993: 186):

  • Noomi ist fremdenfeindlich und unfähig zu vergeben: „... in the eyes of whoever named the book, Naomi does not forgive Ruth for marrying her son ...“
  • Noomi ist unfähig, Rut gegenüber Wertschätzung zu zeigen: „... throughout the entire story, Naomi does not say to Ruth even once that her deeds are, in her view, gracious, or that she considers her a ‚worthy woman‘.“
  • Noomi denkt materialistisch und handelt nur aus Eigeninteresse: „Naomi’s interests are her property and her restored status.“
  • Noomi nützt Rut nur aus: „All the while Ruth is just an instrument in Naomi’s hand.“

Sie kommt zum Schluss: „Thus Ruth is the righteous one who comes to be, thanks to her obedience, the real heroine of the story.“ Obwohl Rut Moabiterin sei, werde sie als ausserordentliches Beispiel weiblicher Hingabe gezeichnet, bei ihr komme der Begriff חסד vor. Wer immer das Buch nach Rut benannt habe, habe es aufmerksam gelesen: „The naming choice implies a criticism of Naomi.“ (1993: 186)

Fazit: Noch heute stützen etliche Wissenschafterinnen und Wissenschafter das Bild der alten, unfruchtbaren, schwachen Noomi. Einige stellen sie als Typus der bösen Schwiegermutter dar.

Alternative Rezeptionsmöglichkeiten der Figur der Noomi

Charakter, Attraktivität und Schicksal der Figur der Noomi?

Die Rut- bzw. Noomi-Erzählung könnte auch ganz anders interpretiert werden. Die Figur der Noomi ist nicht unattraktiv, unerotisch, hässlich und egoistisch. Es ist nicht ihr Schicksal, weder so zu sein, noch sich so zu verhalten. Dagegen spricht ihr Name. Das hebräische Verb נעם bedeutet im qal ‚angenehm/lieblich sein‘. Die Figur der Noomi scheint eine ähnliche Art der Ausstrahlung, die später die Figur des Jonatan auf David ausübt, auf Rut gehabt zu haben (zu diesem Verb vgl. 2 Samuel 1,26). Die Figur der Rut ihrerseits reagiert auf dieses Lieblichsein Noomis mit Liebe (4,15). Das Nomen נעם bedeutet Annehmlichkeit, Wonne oder Freundlichkeit, Huld. Aus dem gleichen Wortfeld stammt נעים, der Beiname Davids als Psalmist (Gesenius 1962).

Nach Zenger (2004: 226) kann der Name Noomi zweierlei bedeuten: die Liebliche oder liebevoll ist JHWH. Noomis ursprüngliche ‚Lieblichkeit/Freundlichkeit/Wonne/Liebe‘ wird am Schluss der Erzählung wieder hergestellt und durch die Erfahrung ‚liebevoll ist JHWH‘ gefüllt. Aufgrund ihres Namens ist Noomi zur Liebe, Huld und Wonne prädestiniert. Von Charakter und Schicksal abgesehen, könnte ihr Name auch auf ihr schönes Äusseres hindeuten.

Das erste Kapitel beginnt mit inhaltlichen Hinweisen zum Charakter der Figur der Noomi. Nach dem Tod ihrer beiden Söhne hat die schon zuvor zur Witwe gewordene Noomi noch die Kraft aufzustehen und in ihre Heimatstadt zurückzukehren. Die Wendung ותקם (1,16) erinnert an Abrahams Aufstehen nach Saras Tod (Genesis 23,3) und an das Aufstehen der אשׂת חיל in der Nacht (Sprüche 31,15), um ihrem Haus Speise zu geben, denn später wird Noomi als Erzieherin Obeds ihren Beitrag zur Ernährung des Hauses Israel leisten.

Noomi scheint der Gruppe Traumatisierter anzugehören, die in Notsituationen kühlen Kopf zu bewahren vermögen und handeln können, sogar fast übermenschliche Kraft entwickeln, um sich und andere zu retten und erst, wenn sie sich in Sicherheit wähnen, die Dimension der Katastrophe psychisch und physisch erfahren und zusammenbrechen. Dass die Figur der Noomi die Situation für sich richtig einschätzt zeigt 1,6: Da ihre kinderlosen Söhne tot sind, ist sie in einer existenziell höchst bedrohlichen Lage. Als sie hört, dass sich JHWH wieder seinem Volk zuwendet, bricht sie auf. Auch wenn sie in der androzentrischen Gesellschaft Bethlehems als kinderlose Witwe als sozial tot gilt (Zenger 1986: 122), gibt es noch Hoffnung: Da ist ein soziales Netz von Bekannten und Verwandten (2,1.20; 4,3) und ein Feld, das sie von Elimelech her besitzt (4,3). Dass sie auf dem Weg auch die Situation ihrer Schwiegertöchter erfasst und realisiert, was sie tun müssen, um sich zu retten, kommt in 1,8-13 zum Ausdruck: Normalerweise kehrt eine Frau nach dem Tod ihres Mannes in ihr Elternhaus zurück (Genesis 38,11). Das schlägt Noomi nun ihren Schwiegertöchtern vor. Sie zeigt Respekt und Dankbarkeit, als sie ihnen wünscht, dass JHWH ihnen die הסד erweise, welche sie den Toten und ihr entgegen gebracht haben (1,8). Mit diesem Verhalten ist sie Vorbild für die beiden jungen Frauen. Indem sie sie in ihr Mutterhaus zurückschickt, entbindet sie Noomi jeglicher Verantwortung ihr gegenüber. Die beiden Frauen fühlen sich offenbar verpflichtet, sie zu begleiten, denn Töchter verlassen ihr Elternhaus und kümmern sich um die alten Eltern ihres Mannes, der bei seiner Sippe bleibt (zu den Sitten im Alten Orient vgl. Plautz 1962: 9-30). Nicht Egoismus spricht aus Noomis Reden an ihre Schwiegertöchter, sondern Verzweiflung (1,13), Verantwortungsgefühl und Liebe. „Trotz ihres Schicksals verfällt sie nicht in Egoismus, sondern ist bereit, auf die Begleitung ihrer Schwiegertöchter zu verzichten, damit es ihnen wieder gut geht.“ (Zakovitch 1999: 16) In Moab haben sie noch eine Chance auf soziale Anerkennung, wenn sie sich wieder verheiraten. Das meint Noomi, wenn sie von der Rückkehr ins Mutterhaus spricht. Dieses gilt als Ort der Begegnung zwischen Mann und Frau, dort werden Heiratsverträge abgeschlossen (vgl. Genesis 24,28; Hoheslied 3,4; 8,2). Für ihr Alter wird gesorgt sein, wenn sie Söhne gebären. Im fremdenfeindlichen Betlehem ist die Chance auf eine Wiederverheiratung gering. Dass Orpa und Rut Noomi lieben, zeigt ihrer beider Reaktion: Sie erheben ihre Stimme und weinen.

Rut widersetzt sich Noomi mit einer Liebeserklärung. Es wird uns keine Reaktion Noomis darauf übermittelt. Fewell und Gunn (1999: 236) sind der Ansicht, dass Noomi sich über ihre moabitische Schwiegertochter geärgert und sich ihrer geschämt habe, Gitay (1993: 186) meint, dass Noomi Rut böse gewesen sei, dass sie Machlon geheiratet habe. Doch Ehen wurden im Alten Orient arrangiert. Wahrscheinlich wird Rut in dem Kulturkreis, in welchem diese Erzählung entstand, nicht viel zu ihrer Verheiratung zu sagen gehabt haben. Da Elimelech gestorben war, als die Söhne heirateten, wird Noomi bei der Heirat ein Wort mitgeredet haben (vgl. weiter unten). Apfel et al (1994: 59) sehen die grosse Liebe Noomis Rut gegenüber: „Naomi had already proved the strength of her love by her acceptance of Ruth throughout Ruth’s barrenness, her desire for grandchildren and descendant notwithstandig.“ Exum (1996: 138) fragt sich, ob diesem Schweigen überhaupt eine Bedeutung beigemessen werden soll: „What, if any, significance should we attach to this fact? ... Naomi displays concern for the welfare of her daughters-in-law when she urges them to return to their mothers’ houses. Although she ignores Ruth’s presence at the end of that chapter ... by chapter 2 she has acknowledged their familial bond ...“

Falls die Leerstelle überhaupt eine Bedeutung haben sollte, sehe ich in ihr keinesfalls einen Hinweis auf einen hässlichen Charakter Noomis. Wenn überhaupt könnten folgende Gründe in Betracht gezogen werden:

  • Noomi sieht keine Möglichkeit mehr, Rut von ihrem Willen abzubringen.
  • Noomi muss mit ihrem Verantwortungsgefühl und Ruts Treueversprechen umgehen. Noch weiss sie keine Lösung. Erst später wird klar, dass sie Boas motivieren muss, damit Rut und sie eine Zukunft haben und Rut ihr Treueversprechen nicht brechen muss.
  • Sasson (1979: 28) schreibt, dass Ruts Treueschwur eine der schönsten und tiefsten Ausdrücke von menschlicher Verbindung in der Literatur darstelle. Rut gibt alles auf: Ihre Heimat, ihr Volk, ihren Gott. Und in einer Welt, wo Männer zählen, bindet sie sich an eine Frau. Ihr Treueschwur ist so einzigartig und überwältigend, dass Verstummen eine nachvollziehbare Reaktionsweise ist.
  • Es stellt sich die Frage, ob Rut lesbisch ist. Ihre Verhaltensweisen in Bezug auf Noomi: דבק (1,14) und אהב (4,15), finden sonst innerhalb heterosexueller Beziehungen statt. Die Aussagen, dass sie mit ihr die Nächte verbringen und im gleichen Grab begraben sein möchte (1,16-17), könnten ebenfalls auf diese sexuelle Präferenz hinweisen. Rut könnte Noomi mit ihrem Geständnis überrumpelt haben.
  • 1,16-17 könnte das Gelübde einer Schülerin gegenüber ihrer spirituellen Meisterin sein. Rut drückt in der Mitte des Versprechens aus: „Dein Gott ist auch mein Gott.“ Durch Noomi hat Rut deren Gott kennen und lieben gelernt.
  • Wird die Erzählung als kunstvolle literarische Einheit betrachtet, würde eine Entgegnung Noomis den Stellenwert des Treueschwurs mindern.
  • Das Schweigen Noomis auf Ruts Gelübde könnte auch eine Ankündigung von Noomis wirklicher psychischer Verfassung gewesen sein.

Beim Eintritt in die Heimatstadt bricht das ganze Elend mit voller Wucht über sie herein. Sie ist nicht mehr dieselbe und gilt nicht mehr dasselbe. Die Frauen fragen: „Ist dies Noomi?“ (1,19) Der Name Noomi muss ihr in Anbetracht ihrer Situation wie Hohn vorkommen: „Nimmer ruft mich Noomi, Behagen, ruft mich Mara, Bitternis, denn der Gewaltige hat mich sehr verbittert.“ (1,20) Als Grund für ihre Namensänderung gibt Noomi an, dass Schaddaj sie sehr verbittert hat: המר. Sie hadert mit JHWH, dass ER sie hat leer (ריקם) heimkehren lassen. Wie Hiob fühlt sich Noomi von Gott verletzt (1,21). In Hiob 16,3 hat der Herr dessen Galle (מררה) zur Erde geschüttet. Und wie Hiob in 17,2 könnte sie sagen, dass auf den Bitterkeiten des Gespötts ihr Auge weilen muss (בהמרותם). Der Name Mara scheint in ihrem Zustand gerechtfertigt. Ihre Identität hat sich gewandelt: Als sozial anerkannte Frau ist sie mit Mann und Söhnen aus Bethlehem ausgezogen, als soziales Nichts (ריקם) kehrt sie zurück. Sie kann sich nicht mehr über Mann und Söhne definieren und wird von der Stadt als kinderlose Witwe auf der untersten sozialen Stufe wahrgenommen. Umbenennungen kommen in der Bibel auch bei anderen Personen vor. Damit wird ein anderer Status der Betreffenden festgestellt, der seine Lage und sein Wesen prägt.

Nachdem die Figur der Noomi ihren Zustand vor den Frauen von Bethlehem verbalisiert hat, deuten die nachfolgend beschriebenen Reaktionsweisen auf eine Krise hin: Sie ist unfähig zu handeln, zu arbeiten, das Haus zu verlassen, lange Dialoge zu führen. Mit ihrem Namen Mara – Bitterkeit, die von der Galle kommt – gebraucht die Figur der Noomi die gleiche bildliche Sprache der ersten griechischen Bürgerärzte aus der Schule des Hippokrates (um 460-370 v.Chr.) für den psychischen Zustand, der damals Melancholie (schwarze Galle) und heute Depression genannt wird. „In diesem Zustand ist alles dunkel, ‚schwarz‘. Die Zeit ist wie angehalten, ist ‚zähflüssig wie Galle‘. Es ist einem Menschen in diesem dunklen, zähflüssigen Zustand nicht möglich, unbeschwert voranzuschreiten.“ (Hell 2004: 112-113) Aufgrund ihres Zustandes lässt Noomi Rut gewähren (2,2). Nicht wegen ihres Alters bleibt Noomi zu Hause und auch nicht aus Bösartigkeit spricht sie nur noch über das Notwendigste, sondern aufgrund ihrer nachvollziehbaren psychischen Verfasstheit.

Die Kapitel 2-4 zeigen, dass Mara, die Bittere, nach wie vor Noomi, die Liebliche, ist. Im Moment, wo Noomi sich Mara rufen lassen will, ist aus der Sicht der Lesenden die grösste Krise überwunden. Aus der Metaposition heraus lesen diese, dass Rut, die ‚Partnerin‘, sich an sie gehängt hat und immer noch bei ihr ist (1,14-17.22). Und sie lesen weiter, dass die Erzählenden den Namen Mara ignorieren und die Frau in 1,22 weiterhin Noomi nennen. Doch dass der Text keine Frage der Bevölkerung Bethlehems nach der Frau an Noomis Seite überliefert, zeigt, dass die Lesenden Noomis Empfinden, ‚leer‘ zu sein aus heutiger Sicht nicht zu voreilig als ungerechtfertigt einschätzen sollten. In dieser Zeit ist es absolut unüblich, eine junge Frau als einen gleichwertigen Ersatz für einen Ehemann und eigene Söhne zu empfinden.

Gitay (1993: 186) wirft Noomi fehlende Wertschätzung Rut gegenüber vor. Einmal abgesehen von der offen ausgedrückten Dankbarkeit und Wertschätzung in 1,8 den beiden Schwiegertöchtern gegenüber, spricht Noomi Rut ab 2,2 wie eine Mutter als ‚meine Tochter‘ an. Noomi hat offenbar Kontakt zu ihren Nachbarinnen, die sich möglicherweise auch um sie kümmern, und erzählt ihnen von der grossartigen Moabiterin. Denn Boas sagt zu Rut: „Gemeldet wards mir, gemeldet alles, was du an deiner Schwiegermutter tatest, nach dem Tode deines Mannes.“ (2,11) Es ist nicht anzunehmen, dass Rut selber ihre guten Taten herumerzählte. Das Loben der Taten Ruts in Bethlehem fällt bei Boas auf fruchtbaren Boden. In 2,19 segnet Noomi diesen, weil er Rut anerkannt hat.

Die Veränderungen von Noomis psychischem Zustand werden in ihrer Gottesbeziehung sichtbar. Zwei Mal gebraucht Noomi den Begriff הסד: Das erste Mal vor ihrem Zusammenbruch, das zweite Mal, als sie sich wieder zu fangen beginnt. In 1,8 wünscht sie ihren Schwiegertöchtern, dass JHWH ihnen הסד schenke, so wie sie es den Verstorbenen und ihr gegenüber getan haben. Hier klingt ein liebevoller, treuer JHWH an. In 1,13.21 ändert das Bild. Noomi sagt, dass JHWHs Hand gegen sie ausgefahren sei und ER gegen sie gezeugt habe, dass Schaddaj sie misshandelt habe. Es wird dabei kein Tun-Ergehen-Zusammenhang hergestellt. Trotz des unverständlichen Handeln Gottes lässt sie aber nicht von ihm ab. Es ist auch nicht ihr Schicksal, verbittert zu bleiben: „The name, which seems to have become irrelevant at a certain point, has not lost its predictive force.“ (Bal 1993: 50) In 2,20 ist sie wieder fähig, JHWH mit Segen, der seine הסד weder den Toten noch den Lebendigen versagt, zu verbinden. Sie revidiert die Deutung ihres Lebensschicksals von 1,13.20.21. Sie äussert Wertschätzung Boas gegenüber und spürt Rut an ihrer Seite. Sie formuliert zwei Mal ein ‚uns‘ in Bezug auf Rut. Wenn Noomi sagt: „Nahe ist uns der Mann, von unseren Lösern ist er“, kann Rut, die nicht in diese Verwandtschaft gehört, damit nicht gemeint sein. Dieses ‚uns‘ kann nur durch die Solidarität Noomis mit Rut erklärt werden. Noomi ist nun wieder fähig, einen Lichtblick zu erhaschen. Sie kann sich ihrer Schwiegertochter gegenüber öffnen, bekommt eine Ahnung, dass sich Gott zeigt: Rut ist um ihr Wohlergehen besorgt und ernährt sie, wenn sie aufgrund ihres psychischen Zustandes nicht mehr fähig ist, das Haus zu verlassen; Boas zeigt sich als gerechter, weil Armenrechte achtender Mann. Dass er weitere, konkrete Schritte auf die Moabiterin zu macht, scheint sie jedoch zu bezweifeln. Der Dialog von 3,1-5 eröffnet Noomi wieder mit den aus den vorhergehenden Kapiteln vertrauten Anrede ‚meine Tochter‘ und durch rhetorische Fragen, einer Kommunikationsart, die sie vor ihrem Zusammenbruch pflegte. Sie will für Rut eine Ruhestatt bei einem Mann finden. Im Gegensatz zu 1,9 lässt sie es nicht bei dem Wunsch bewenden, dass JHWH Rut das gebe. Wie eine Mutter gibt sie in 3,3-4 mit neun Imperativen Rut konkrete Anweisungen, wie sie das anstellen soll. Ihr geht es um soziale Sicherheit und um soziale Anerkennung der Moabiterin durch die Verbindung mit einem Judäer.

Dass Noomi einen Löser hat – nicht Boas, sondern Obed – führen die Frauen auf das Tun JHWHs zurück (4,14-15). Wie Hiob wird Noomi am Schluss mehr gegeben als am Anfang: Die Frauen sind der Meinung, dass Rut mehr wert sei als sieben Söhne, welche Noomi nie besessen hat. Damit wird auf Hiobs sieben Söhne, die am Schluss durch sieben neue ersetzt wurden, angespielt (Hiob 1,2; 42,13). Noomis sozialer Zustand und ihre Lebenskraft (נפש) gelten als wieder hergestellt. Trotzdem sagt sie nicht, dass sie wieder Noomi gerufen werden möchte. Es wird überhaupt keine verbale Reaktion Noomis überliefert. Für Noomis Schweigen am Schluss gibt es meiner Ansicht nach folgende Erklärungsmöglichkeiten:

  • Die Erzählung möchte nicht ein banales ‚Ende gut, alles gut‘ für die Figur der Noomi vermitteln. Es gibt schwere Schicksalsschläge, und normalerweise braucht der Heilungsprozess Zeit. Zudem steht der individuelle Mensch in einem Heilsgeschehen, das im Zusammenhang von Generationen betrachtet werden muss. Noomi übernimmt als Obeds Pflegerin (4,16: אומנת), die Verantwortung für dessen Erziehung, die über Generationen hinweg wirkt. Auffällig sind gewisse Parallelen im Verhalten von Noomi und David, z.B. ihr Umgang mit Moab und ihre Ausstrahlung auf Menschen beiderlei Geschlechts. Beide bringen sich, respektive Familienmitglieder, in Gefahrensituationen in Moab in Sicherheit und kehren selber nach Bethlehem zurück (1 Samuel 22,3-5), und beide lassen sich durch eine gleichgeschlechtliche Partnerin/einen gleichgeschlechtlichen Partner lieben (1 Samuel 1,1-3; 19,10; 20,11; 2 Samuel 1,26).
  • Noomi verstummt vor Freude. Ihre nonverbale Reaktion – sie nimmt das Kind, legt es auf ihren Schoss und wird ihm zur Pflegerin – sagt mehr als tausend Worte.
  • Hätte sie das Schlusswort, würde die Botschaft der Frauen, die als öffentliche Autorität dargestellt werden, in ihrer Bedeutung herabgemindert. Diese Frauen intervenieren als Erzählerinnen in die Geschichtsdarstellung als Bewegung von Vater zum Sohn, und bestreiten damit die Macht und Funktion des Vaterhauses. Schon zu Beginn der Erzählung wurde deutlich, dass das Vaterhaus nicht der Ort sein kann, aus dem die Zukunft Israels hervorgehen kann. Nach Butting (1993: 44, Anmerkung 60) reflektieren die Erzählerinnen die Geschichte ihrer Tätigkeit und hinterlassen ihre Handschrift in diesem Buch.

Noomi-Mara wird in einem Verarbeitungsprozess schwerer Schicksalsschläge gezeigt. Ernsthaft zu überlegen wäre, warum einer weiblichen Leidensfigur charakterliche Hässlichkeit unterstellt wird. Wer käme auf die Idee, dem leidenden Mann Hiob vorzuwerfen, dass er sich seinen Freunden gegenüber egozentrisch verhalte?

Entspricht die Figur der Noomi Altersstereotypen?

Noomi wird in Alterstereotypen rezipiert. „Um Altersstereotype handelt es sich, wenn Menschen aufgrund ihres Lebensalters bestimmte Eigenschaften, Verhaltens- und Rollenerwartungen zugeschrieben werden, ohne die betreffenden Personen genauer nach ihren Wahrnehmungen, Bewertungen und konkreten Verhaltensweisen zu betrachten.“ (Backes et al 2003: 58). In diesem Abschnitt untersuche ich den Bibeltext hinsichtlich folgender Fragen:

  • Welche Hinweise gibt es zum Alter Noomis?
  • Welche Hinweise gibt es zur Unfruchtbarkeit Noomis?
  • Welche Hinweise gibt es zur erotischen Unattraktivität Noomis?
  • Welche Hinweise gibt es zur Armut Noomis?
  • Wie nimmt sich Noomi selber wahr?
  • Wie verhält sie sich?
  • Wie nehmen sie die Frauen von Bethlehem wahr?
  • Wie nimmt Rut sie wahr?

Hinweise zu Noomis Alter finden wir in 1,3: Noomi ist verwitwet und hat zwei verheiratete Söhne. 1,4 gibt den Hinweis, dass ‚sie‘ zehn Jahre in Moab blieben. Campbell (1975: 67) und Jost (1992: 26) schätzen Noomi um die 45, Fischer (2001: 148) um die Vierzig. Campbell meint, „... Naomi was probably married in her early to mid-teens, and had two sons by the time she was twenty. They in turn would have married by the time they were fifteen or so, to girls a bit younger. Ten years of childless marriage for them would bring us to the mid-forties for Naomi.“ Es bleibt unklar, weshalb Campbell Noomis Mutterschaft erst gegen zwanzig hin annimmt. Nach Schroer (2005/06: 1) bekamen viele Frauen, kaum ausgewachsen, ihr erstes Kind. Dies erklärt unter anderem die hohe Sterblichkeitsrate junger Frauen im Alten Orient. Es ist also eher anzunehmen, dass Noomi im Alter zwischen zwölf und siebzehn ihre Söhne bekam. Wenn ihre Söhne im Alter von fünfzehn Jahren heirateten und zehn Jahre nach der Heirat starben, könnte Noomi bei ihrer Rückkehr nach Bethlehem um die vierzig gewesen sein. Wird jedoch davon ausgegangen, dass Elimelech kurz nach der Ankunft in Moab starb, als die Söhne noch nicht im heiratsfähigen Alter waren, bezieht sich das ‚sie blieben‘ (1,5: אם וישבו) auf die Aufenthaltsdauer Noomis und ihrer Söhne in Moab. Diese könnten kurz nach ihrer Heirat gestorben sein. Dies wäre eine mögliche Erklärung für ihre Kinderlosigkeit. In diesem Fall wäre Noomi in den Dreissigern. Diese Berechnung könnte erklären, weshalb nicht überliefert wird, dass nach dem Tod Elimelechs einer der Söhne die Pater-familias-Rolle übernommen hat.

Campbell (1975: 67) ist der Meinung, dass Noomi unfruchtbar ist: „Given the rigors of life in ancient Palestine, that would be years enough, almost certainly, for her to have reached the menopause.“ Für Sasson (1979: 24-25) sind Spekulationen über Noomis Alter irrelevant. Zu 1,12 behauptet er, dass der springende Punkt bei Noomi nicht sei, dass sie zu alt sei, einen Mann zu bekommen, sondern dass sie in der Menopause und somit zu alt sei „to have sexual relation that would result in pregnancy.“ Auch Fischer, die Noomi sonst positiv rezipiert, schreibt zunächst, dass diese am Rande ihres fruchtbaren Lebens stehe (2001: 140), steigert diese Behauptung später zu: „Noomi ist jedoch kinderlos und jenseits der fruchtbaren Lebensphase. Sie kann keine Kinder mehr bekommen.“ (2001: 256)

Wie ich oben gezeigt habe, gehe ich nicht wie Campbell von einem Alter von 45 Jahren und mehr aus. Auch Armut und ein hartes Leben stelle ich bei Noomi in Frage. Aufgrund des Bibeltextes sehe ich keinen Anlass den oben erwähnten Autorinnen und Autoren in ihrer Meinung zu Noomis Menopause zu folgen. Die Erzählenden des Buches Rut äussern sich nicht zu einer Unfruchtbarkeit Noomis. Betrachten wir Noomi nach ihren Wahrnehmungen und Bewertungen, sagt sie nur, dass sie zu alt sei, um eines Mannes zu werden (1,12: זקנתי מלהיות לאיש). Dieser Satz sagt etwas über die damalige Zeit aus, in der Mädchen ab zwölf Jahren verheiratet wurden. Noomi sagt damit, dass sie nicht mehr ein blutjunges Mädchen ist, an dem Männer im Normalfall Interesse hatten. Noomi zeigt den Schwiegertöchtern die Grenzen auf, die das androzentrische System und nicht ihr Alter zieht. Auch sagt Noomi von sich selber nirgends, dass sie keine Kinder mehr bekommen könne. Sie fragt lediglich: ‚Hat es noch Söhne im meinem Leib?‘ (1,11).

Mit konkreten Verhaltensweisen zeigt uns Noomi, dass sie nicht alt oder gar greise (Petermann 1998: 104) und somit dement ist: Sie geht eine weite Strecke von Moab nach Bethlehem zurück. Selbst auf einem Esel wäre die Reise für eine alte Frau zu anstrengend. Im Gespräch mit ihren Schwiegertöchtern präsentiert sie sich als sehr realistisch und logisch denkend. Als die schlimmste Krise überwunden ist, beginnt sie, gewagte Pläne zu schmieden, weil sie sich weder darauf verlässt, dass Boas einen Schritt auf Rut zu macht, noch dass Gott durch ein Wunder eingreift. Sie handelt nach dem Motto: ‚Hilf dir selbst, so hilft dir Gott‘. Sie plant weise die Zeit und den Ort der Begegnung zwischen Rut und Boas, ebenso wie das genaue Vorgehen. Boas soll schon gegessen haben. Das Mahl steht in der Bibel im Zusammenhang mit dem Gelingen einer Mission (z.B. Genesis 24,33-54). In Kohelet 9,7-9 werden die gleichen Faktoren, die Noomi zur Vorbereitung aufzählt, in Verbindung mit dem gemeinsamen Liegen von Mann und Frau verbunden. Die Tenne ist der Ort für heimliche sexuelle Aktivitäten (Hosea 9,1). In Noomis Rede klingen weitere sexuelle Konnotationen an: שכב, רגל und ידע. Möglicherweise deutet Noomi an, dass sich Rut von Boas unerkannt Nachkommen verschaffen soll. Auf jeden Fall gibt sie eine klare Anleitung zu einer Verführung, die mit keinem Wort verurteilt wird. Im Gegenteil: Die Rutgeschichte überliefert, dass Noomis Anweisungen die Rettung für beide Frauen und für ganz Israel bringt.

Auch die Nachbarinnen stellen Noomi nicht alt und greise vor. Sie sagen, dass Obed der Versorger für ihr Alter sei. Obed wird frühestens im Alter von fünfzehn Jahren Verantwortung für Noomi übernehmen können. Dann wird Noomi nach Ansicht der Frauen graues Haar bekommen und der Hilfe bedürfen (4,15: שיבתך vgl. שיב).

Rut ‚klebt’ sich wie ein Mann an Noomi und schwört ihr Treue. „Sie liebt dich“, sagen die Nachbarinnen über Rut zu Noomi. Diese Aussage weist darauf hin, dass Noomi für Rut eine erotische Attraktivität gehabt haben könnte und diese als liebliche, liebenswerte, reife Frau wahrgenommen hat. Exum (1996: 150-161) zählt eine Reihe wissenschaftlicher Metatexte auf, welche die heterosexuelle Beziehung zwischen Rut und Boas idealisieren und romantisieren, obwohl der Bibeltext selber nie direkt von der Liebe Boas’ zu Rut oder umgekehrt berichtet. Theologische Metatexte widmeten sich oft dem Thema, ob Boas und Rut auf der Tenne Sex hatten oder nicht, wobei Sexualität bei vielen ganz selbstverständlich mit Gefühlen verbunden sei. Boas könne jedoch auch geschäftlich wahrgenommen werden. Im Film The Story of Ruth von Henry Koster aus den 60er Jahren wird Noomi als grauhaarige, alte, Rut als junge, dunkelhaarige, attraktive Frau dargestellt. „Naomi’s advanced age and motherly attitude toward Ruth und Ruth’s deferential and protective treatment of Naomi rule out even the slightest suggestion of erotic feelings on the part of either woman.“ (Exum 1996: 148) Reiferen Frauen wird jegliche erotische und sexuelle Attraktivität abgesprochen. Das Alter scheint auch heute noch einen entscheidenden Einfluss darauf zu haben, ob eine erotische Beziehung zwischen zwei Frauen vorstellbar ist. Sexuelle Beziehungen zwischen älteren Männern und jungen Frauen werden hingegen als normal angeschaut. Während Boas im Midrasch ein achtzigjähriger Mann ist (RutR. 6.2), schätzt ihn Campbell gleich alt wie Noomi: ungefähr 45-jährig. Er spricht von Noomi und Boas als ‚senior citizens‘ und von Repräsentanten der älteren Generation (Campbell 1975: 67, 110-111). Exum (1996:147) konstatiert: „Boaz’s age is also in question, but does not pose a serious problem for imagining his sexual union with Ruth. He is frequently taken to be an older man ..., an assumption that involves romanticizing. This is the male fantasy in which an old man finds new life and fulfillment in a younger woman. That Boaz can easily be older than Ruth for a sexual relationship, but Naomi not, reflects both a heterosexist double standard according to which older men are sexually attractive but older women are not and a related cultural tendency to deny the sexual desire of older women.“

Zu den Altersstereotypen gehört auch eine prekäre materielle Situation. Noomi und Rut werden beide als arme Frauen wahrgenommen (Bal 1993: 45; Ebach 1995: 278). Dass Rut für die Nachlese auf Boas’ Feld geht, weist darauf hin, dass sie arm ist (2,2 vgl. Deuteronomium 24,17-22; Leviticus 19,9-10; Leviticus 23,22). Doch wie sieht dies bei Noomi aus?

Noomi liess ein Feldstück (4,3: השדה חלקת), das sie von Elimelech geerbt hat, verkaufen. Numeri 27,1-11; 36, 2 Könige 8, Hiob 42,15, Sprüche 31,10-31 und Judit 8,7 zeigen, dass Frauen Land besitzen konnten. Hertzberg (1965: 279-280) ist der Ansicht, dass es sich beim Feldstück in 4,3 nur um einen Besitzanteil Elimelechs an einem Acker handle, was erkläre, warum das Land für Noomi nicht von Nutzen gewesen sei. Diese Landstücke seien verpachtet gewesen. Nur ein Bauer wie Soundso oder Boas, der schon Besitzanteile am Acker gehabt habe, könne daran interessiert gewesen sein. Dass der Feldanteil Elimelechs nicht näher definiert wird, könnte jedoch darauf hinweisen, dass er in Bethlehem gut bekannt und möglicherweise gross war. Jost (1992: 64) meint, dass sich in seiner Abwesenheit ein anderer das Land unrechtmässig angeeignet habe. Indem der einflussreiche Boas Noomis Feldstück zur rechtmässigen Lösung anbiete, werde öffentlich klargestellt, dass Noomi die rechtmässige Besitzerin sei. Boas als Noomis Rechtsvertreter betreibe einen rechtsverbindlichen Grundstückverkauf, um am Schluss selber das Land zu übernehmen (vgl. Leviticus 25,25). Dies könnte erklären, weshalb Rut trotz Noomis Feld auf Boas’ Feld zur Nachlese geht. Oder aber Elimelechs Feldstück hat während der Abwesenheit der Familie brach gelegen und wirft nun keinen Ertrag ab. Dass Elimelech vor seiner Emigration das Feld verkaufen musste und Noomi als seine Witwe nun das Rückkaufsrecht hat und Boas sich als Löser seiner Rückkaufspflicht für die mittellose Witwe unterwirft, ist unwahrscheinlich. Denn in 4,3-9 wird Noomi eindeutig als die Verkaufende vorgestellt (Verb מכר). Es stellt sich die Frage, ob Noomi noch mehr als das Feld von Elimelech erbte. In 4,9 heisst es: „Zeugen seid ihr heute, dass ich alles, was Elimelech war, und alles, was Kiljons und Machlons war, aus der Hand Noomis erworben habe.“ Zuvor ist nur vom Feld und von Rut die Rede.

Mit ריקם (1,21) meinte Noomi nicht primär ihre momentane materielle Situation. Sie sprach ihren sozialen Status an: Sie hat keine Söhne, die sie ehren (Deuteronomium 5,16 par Exodus 20,12), das heisst, niemanden, der sie im Alter pflegen, versorgen und beerdigen wird. Hier setzte die Liebesleistung Ruts ein.

Ist Noomi in Ruts Schatten?

Zwar bezeichnet der Titel eines Werks im Normalfall die Protagonistin oder den Protagonisten. Doch die Protagonistin/der Protagonist muss nicht mit der Titelfigur identisch sein. Liegt beim Buch Rut der Fall einer Nichtidentität der Titelfigur mit der Progagonistin vor?

Erst in der neueren Forschung wird Rut als Protagonistin angezweifelt. Goitein (1957: 252) nimmt als Erster Noomi als Hauptperson wahr. Die Anzahl der Namensnennungen kann darauf hinweisen, wer die zentrale Figur ist, die Anzahl der Reden, respektive die Anzahl der gesprochenen Worte und die Anzahl der Handlungen, wer die Handlung massgeblich vorwärts treibt.

  1. Kap. 2. Kap. 3. Kap. 4. Kap. total Namen
Anzahl der Namensnennungen

7 (8)*

4

0

5

4

9

1

1

2

6

3

6

19 (20)

12

17

Noomi

Rut

Boas

Anzahl der Reden

4

1

0

5

5, mit Zitat 6

6, mit Zitat 7

3

3

4, mit Z. 5

0

0

4

12

9 (10)

14 (16)

Noomi

Rut

Boas

Gesprochene Worte total

105

33

0

37

57

105

75

21, mit Zitat 26

80, mit Zitat 85

0

0

100

217

111 (116)

285 (290)

Noomi

Rut

Boas

Halndungen = aktive Verbformen

10

2

0

4 (5)

23, mit Zitat 26

10

3

14

13 (14)

4

1

11

21 (22)

40 (43)

34 (35)

Noomi

Rut

Boas

*inkl. Mara

Aufgrund der Namensauszählung steht Noomi im Mittelpunkt. Boas spricht quantitativ am meisten. Doch erst im vierten Kapitel treibt er durch sein Reden die Handlung wirklich voran. Noomi spricht eindeutig mehr als Rut und zwar sowohl von der Anzahl der Wortergreifungen als auch von der Länge der Reden her. Da es nicht möglich ist, die Redezeit zu messen, welche mit dem Machtanspruch der Sprechenden in Zusammenhang steht, habe ich die Anzahl der gesprochenen Worte gezählt (vgl. Methodik zu Untersuchungen von Gesprächsverhalten Hummel 1984: 285-287, Zumbühl 1984: 233-245). Hier ist Boas’ Macht als Mann am besten ablesbar. Es kommt auch klar zum Ausdruck, dass Noomi mehr als die jüngere Rut zu sagen hat.

Rut hingegen handelt häufiger als Noomi. Dies geschieht oft als Reaktion auf Noomis Sprechen. In fast allen Gesprächssituationen ergreift Noomi zuerst das Wort (Ausnahme: 2,2), worauf Rut reagiert, ihre Pläne ausführt und rapportiert (Ausnahmen 1,16-17: unbeabsichtigte Reaktion für Noomi und 3,9: kleiner Ungehorsam).

Werden die Kapitel isoliert betrachtet, hat im ersten Noomi, im zweiten Rut, haben im dritten Noomi und Rut, hat im vierten Boas die Hauptrolle inne. Noomi, Rut und Boas hängen voneinander ab, wären nicht das, was sie sind, ohne die anderen.

Wird das Buch jedoch als Ganzes betrachtet, ist Noomi die Protagonistin. Sie steht im Zentrum, berührt, bringt andere in Bewegung und treibt so die Handlung massgeblich voran. Wenn nämlich im zweiten Kapitel davon ausgegangen wird, dass es Noomi schlecht geht, kann sie weiterhin als Protagonistin betrachtet werden, auch wenn sie nicht handelt, da es auf der Hand liegt, dass sie nicht handeln kann. Im dritten Kapitel treibt sie mit ihrem Plan die Handlung mit Hilfe Ruts voran, während im vierten Boas in ihrem Auftrag handelt. Sie versteht es, andere in Bewegung zu bringen. Im ersten Kapitel steht Noomi auf und macht sich nach den schlimmsten Schicksalsschlägen, die eine Frau treffen können, auf den Weg. Ihr Bewegt-Sein berührt und bewegt andere: Orpa, Rut und die Menschen von Bethlehem. Im dritten Kapitel setzt Noomi Rut ganz gezielt zu ihrer beider Rettung in Bewegung. Während Boas im zweiten Kapitel von Rut berührt wurde, erhält er durch Noomis Plan und Ruts Ausführung den nötigen Anstoss, sich für die beiden Frauen in Bewegung zu setzen. Am Schluss nehmen die Nachbarinnen die Bewegung auf und bringen die Erzählung zu einem fulminanten Abschluss.

Rut und Boas werden beide über Noomi eingeführt. Die Titelfigur Rut wird indirekt über ihre Söhne eingeführt (1,3). Diese stellt Noomi ins Zentrum ihres Lebens. Sie konkurrenziert nie mit ihr, stellt sie nie in den Schatten. Im Gegenteil. Sie verlässt für Noomi ihren familiären, lokalen, ethnischen und religiösen Lebenskontext. Die Aussicht auf eine erneute Wiederverheiratung und auf Söhne und somit einer Wiederherstellung ihres sozialen Status und ihrer sozialer Sicherheit gibt sie auf. Dies ist erstaunlich, da der Sinn des Lebens einer jeden Frau im Alten Orient Söhne waren (vgl. z.B. Genesis 30,1). Obwohl sie als Moabiterin ihre moabitische Identität vollends für eine Judäerin aufgibt und sich vollkommen assimiliert, riskiert sie ausgestossen zu werden.

Noomis Gott und Noomis Volk sind Rut wichtig (vgl. Fischer 2001: 147), nicht das Volk und der Gott des verstorbenen Ehemannes. Noomi muss eine besondere Frau gewesen sein, dass sich Rut über ihr Leben hinaus an sie bindet und wie bei ehelichen Gemeinschaften im selben Grab begraben sein will. Den Schluss ihres Treueschwurs besiegelt sie mit dem Gottesnamen: „So tue JHWH mir an, so füge er hinzu: Ja, denn, der Tod wird zwischen mir und dir scheiden.“ (1,17) Bemerkenswert ist auch, dass der Begriff חסד für Rut nur einmal von Boas in der nächtlichen Szene auf der Tenne fällt (3,10). Er lobt damit Rut, dass sie nicht anderen Jünglingen gefolgt sei. Als Moabiterin hätte Rut aber kaum eine Chance gehabt, von einem anderen zur Frau genommen zu werden, was die Reaktion des Lösers Soundso belegt (4,6). Ruts Handeln an Boas ist nicht nur uneigennützige חסד. Die erste, von ihm angetönte, weniger grosse חסד ist diejenige Noomi gegenüber. Ruts Loyalität gehört jedoch primär dieser Frau.

Auch die Frauen von Bethlehem stellen Noomi ins Zentrum. An den zwei Stellen, wo Noomi und Rut zusammen öffentlich auftreten, ist Noomi diejenige, die angesprochen wird. Als Rut und Noomi in die Stadt zurückkehren, ‚rauscht all die Stadt über sie auf‘, doch die Frauen von Bethlehem fragen nur: „Ist dies Noomi?“ (1,19). In 4,11-12 betrifft der Wunsch nach der Wiederherstellung Israels aus dem Mund des Volkes im Tor und der Ältesten Boas: Das Wort לך ([<lexa>) fällt einmal. In 4,14-15 kommt das Wort לך (<lax>) aus dem Mund der Frauen drei Mal für Noomi. Ihr kommt mehr Gewicht zu als Boas: JHWH habe ihr den Löser nicht versagt, Obed werde ihr zum Seelenwiederbringer und zum Versorger im Alter, den ihre Schwiegertochter, die sie liebe, geboren habe. Diese sei für sie mehr wert als sieben Söhne. Aus der Sicht der Frauen geht das Kind, das von allen in Israel Erlöser genannt werden wird, nicht aus einem Vaterhaus, sondern aus der Liebe Ruts zu Noomi hervor. Dass eine Frau einer anderen und nicht einem Mann aus Liebe einen Sohn gebiert, ist in der Bibel ohne Parallele. Durch Frauen wird Noomis Status wieder hergestellt: Rut gebiert ihr Obed, und die Nachbarinnen rufen sie als legitime Mutter aus. Als solche wird sie mit David in Verbindung gebracht. Mit der Katastrophe, die ihr widerfährt, beginnt die Erzählung, mit ihrer Wiederherstellung endet sie. Im Zentrum steht immer sie. Sie erfährt exemplarisch die Wiederherstellung Israels.

Die Kritik an rassistischen Tendenzen rechtfertigt heute noch den Titel Rut. Genausogut hätte als Titel ‚Noomi und Rut‘ oder ‚Noomi‘ gesetzt werden können.

Noomi ist eine schillernde Figur: Gender und Rollen

Im Buch Rut hinterfragen Frauen mit ihrem Verhalten die traditionellen Genderkategorien: „Women deconstruct their gender by dedifferentiating their roles.“ (Berquist 1993: 35). Erstaunlich ist, wie wenig Beziehungen und Rollen im Buch Rut definiert sind und auf welcher Bandbreite Gender dargestellt ist. Im Folgenden gehe ich nur auf die verschiedenen Rollen ein, die Noomi einnimmt. Die besitzanzeigenden Endungen bei den Familienmitgliedern ab 1,3 zeigen an, dass sie nach dem Tod Elimelechs die Funktion des Pater familias übernimmt: Sie verbleibt mit ihren beiden Söhnen. Nach deren Tod verbleibt sie ohne ihre zwei Kinder und ohne ihren Mann. Elimelech wird nach seinem Tod als Noomis Mann bezeichnet. Normalerweise werden Ehefrauen durch ihren Mann definiert und nicht – wie es hier der Fall ist – der Mann durch seine Frau. Es steht nirgends, dass nach dem Tod Elimelechs Machlon oder Kiljon ‚das Haus’ übernimmt, und einer von ihnen Pater familias wird und Noomi, seine Mutter, zu sich nimmt. Der Erstgeborene hätte dies tun müssen. Dass Noomi nicht nur für ihre Kinder, sondern auch für ihre Schwiegertöchter die Pater-familias-Rolle inne hat, zeigt sich darin, dass diese ihr nach dem Tod ihrer Männer wie selbstverständlich folgen. Mit dem Verantwortungsgefühl eines Pater familias fordert Noomi sie zur Rückkehr ins Haus ihrer Mutter auf. Auch später fühlt sich Noomi wie ein Pater familias verantwortlich, dass Rut wieder zu einem Mann kommt und schickt sie zum Verwandten Boas: „Meine Tochter, nicht wahr, ich will dir eine Ruhestatt suchen, wo du’s gut hast.“ (3,1) Rut vertraut sich Noomis Führung an und gehorcht ihr wie einem Pater familias: „Alles, was du mir sagst, will ich tun.“ (3,5-6.) Dass Rut nach Aussagen der Frauen ihren Sohn weder Boas noch Machlon, sondern Noomi gebiert, zeigt, dass hier die Rechte der Männer als Pater familias von Frauen übergangen werden (4,15-17).

Zwar beanspruchen traditionell denkende Heterosexuelle bei der kirchlichen Trauung das Treuegelübde Ruts an Noomi als ihr Heiratsversprechen. Doch Ruts und Noomis Verhaltensweisen destabilisieren dieses Ehe- und Familienbild. Exum (1996: 169) nimmt Noomi sexuell ambivalent wahr: „... this ambivalence ... challenges our notions of gender by destabilizing our gender categories. ... relationships in the book of Ruth are more complex than analysis in terms of patterns of bonding reveals. There is a striking blurring of gender roles, indeed of sexually determined roles – husband, wife, mother, father – in this tale, with Naomi symbolically holding all four of these roles.“ In einer androzentrischen Gesellschaft gebären Frauen Söhne für ihre Männer (z.B. Genesis 16,1.15-16; 17,19; 21,2-7; 30,3-13; 44,20; 2 Samuel 3,2; 12,14; Hiob 1,2; 1Chronik 3,1-9; 22,9). Somit ist Noomi in der Rolle von Ruts Mann und für Obed Vater (4,15-17). Doch Noomi nimmt das Kind wie eine Mutter auf ihren Schoss, respektive an ihre Brust (4,16). Als Obeds Mutter wird sie auch zu Boas’ Frau. Schon vorher benahmen sich Noomi und Boas wie ein Paar. Wie Eltern nannten beide Rut unabhängig voneinander ,meine Tochter‘. Noomi ist also nicht nur Obed gegenüber in der Mutter- und Vaterrolle, sondern auch Rut gegenüber.

Exum (1996: 170-171) macht auf das Verwischen der Rollen von Noomi und Rut bei der Verführung Boas durch die Ketiv-qere-Stelle in 3,3-4 aufmerksam. Beide werden zu Frauen Boas’. Im Konsonanten- (Ketiv-)Text steht: „Bade, salbe dich, leg deine Tücher um, und ich werde zur Tenne hinabgehen (וירדתי). Lass dich aber vom Mann nicht bemerken, bis er mit dem Essen und Trinken zu Ende ist. Und sei es, wenn er sich hinlegt, musst du den Ort kennen, wo er liegt, dann kommst du und deckst den Platz zu seinen Füssen auf, und ich werde mich niederlegen (ושכבתי), so wird er dir vermelden, was du zu tun hast.“ Noomi ist auch in der Rolle von Ruts Frau, da diese wie ein Mann für seine Frau Vater und Mutter verlässt und sich an sie ‚klebt‘ (2,11; 1,14 par Genesis 2,24). Noomi hat also folgende Rollen inne: Obeds Vater und Mutter, Ruts Vater und Mutter, Ruts Mann und Frau, Boas’ Frau. Die Männer in dieser Erzählung – Elimelech, Machlon, Kiljon, Boas und der Soundso – wechseln hingegen ihre Rolle nie.

Fazit: Mit dem Fokus auf der Figur der Noomi-Mara fordert das Buch Rut heutige Menschen auf, ihre kulturell geprägten Vorurteile wie zum Beispiel über das Älterwerden, über Krisen, Sexualität, Fruchtbarkeit, gleichgeschlechtliche Freundschaften, Ehe, Familie und (Schwieger-) Mutterdasein zu hinterfragen und die daraus resultierenden Antworten immer wieder neu für die Gesellschaft fruchtbar zu machen.

 

Literaturangaben

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Judith Hélène Stadler,

studiert Judaistik an der Universität Luzern und Ancient Near Eastern Cultures Relating to Pre-Islamic Palestine/Israel (ANEC) an der Universität Bern. Sie arbeitet als selbständig erwerbende Supervisorin BSO und Erwachsenenbildnerin.

© Judith Hélène Stadler, 2007, lectio@theol.unibe.ch, ISSN 1661-3317

 
 
 
 

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